Vortragsmagie
Leonard Cohen sang im Jom Kippur Krieg vor israelischen Soldat:innen. Für den Reporter eines Musikmagazins war der Star in der Wüste nur ein „besserer Tourist“. Die Überspannung des Augenblicks an einem äußersten Punkt des Lebens, in dem keine Suggestion die Vortragsmagie in der sagenhaften Wüste Sur übersteigt, und Cohen so konkurrenzlos wie der Messias erscheint, evoziert einen Bildersturm des Elementaren. Kongenial charakterisiert Friedman den Typus der hingerissenen Verteidiger:innen Israels.
„Sie waren die erste Generation einheimischer Israelis - nicht geflohen, keine Minderheit, nicht religiös, nicht wirklich Juden, vielmehr aus Sonnenlicht und Salzwasser erstandene Wesen.“
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Im Ereignispräsens von 1973
Seine eigene Erzählung beginnt Friedman auf dem 1968 als Stützpunkt der israelischen Luftwaffe angelegten, heute in Ägypten liegenden Flughafen Sharm El-Sheikh. Friedman schildert den koedukativ-zivilen Duktus der Mannschaft einer Radarstation im Modus „theoretischer Alarmbereitschaft“. Ein Foto zeigt Adoleszenten im Hippie-Look. Die rekrutierten Teens & Twens baden nackt. Sie langweilen sich, spielen Gitarre, grillen und rezitieren Gedichte.
„Keiner der Mitarbeiter … hatte je ein feindliches Flugzeug mit eigenen Augen gesehen.“
1973 fällt der Vorabend des höchsten jüdischen Feiertages auf den 5. Oktober. Viele Akteure des Fliegerhorst-Ensembles missachten die religiösen Regeln des Versöhnungsfestes. Sie ignorieren das Fastengebot und verschlafen sakrale Termine. Gegen vierzehn Uhr des folgenden Tages kommt der ägyptische Angriff bei der Besatzung von Sharm El-Sheikh an: zuerst als Meldung von Kriegshandlungen in der Gegend. Bald darauf treffen Raketen die Radarstation.
Matti Friedman, „Wer durch Feuer. Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens“, aus dem Englischen übersetzt von Malte Gerken, Hentrich & Hentrich, 24.90 Euro
„Mitten in der ersten Nacht des Krieges wurden zwölf Soldaten in drei Panzern ausgesandt, um die Radarstation zurückzuerobern.“
Die Besatzung gerät unter freundliches Feuer.
Moderner Exodus
In seinen Aufzeichnungen spricht Cohen zweifellos über sich, auch wenn einzelne Episoden aus der Phantasie geschöpft zu sein scheinen. Trotzdem böte eine Unterscheidung zwischen dem Autor und seinem erzählenden Ich dem Erlebnisdrive zu viele Hemmnisse. Vor der „Tortur aus Wärme und Monotonie“ in einer ehegleichen Konstellation mit Kind sucht Cohen Zuflucht in biblischen Bildern. An anderer Stelle amüsiert er sich aber über einen „kalifornischen Mystiker, der schreit: Gott ist unsere Geschichte“. Cohen resümiert: „Das sind Menschen, die an Worte glauben … Leute wie ich haben die Bibel geschrieben. Wir haben es aus Bosheit und Verzweiflung getan“.
Cohen entzieht sich seiner häuslichen Misere. Via Griechenland reist er nach Israel: im Sog eines modernen Exodus. Freiwillige, die für Israel kämpfen wollen, schlafen „in Heathrow und Orly“ vor El-Al-Schaltern.
„Manche waren noch nicht mal Israelis … Ein …Arzt aus Pittsburgh operierte … Soldaten nur vier Stunden nach seiner Landung.“
Hilfsbereite erleben die Abwesenheit von Kampfhandlungen in Israel; deprimiert von der dramatischen Nachrichtenlage machen sie irgendwas mit Blumen in einem Kibbuz.
„Der Krieg war woanders.“
Cohen treibt durch Tel Aviv. Er findet Aufnahme in einem „improvisierten“ Armeemusikkorps.
„Wenn die Kämpfe beginnen, tauchen die Sänger des Landes auf, um (vor Soldat:innen) zu spielen.“
Jemand besorgt Cohen eine Gitarre. Er schläft auf dem Boden und begnügt sich mit Kampfrationen.
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Friedman beruft sich auf Ofer Gavish, der „frisch von der Flugschule“ in den Jom Kippur Krieg kommt und zunächst auf dem Militärflugplatz Ramat David den erfahrenen Phantom-Piloten assistiert. Ihm verdankt der Autor atmosphärisch aufgeladene Schilderungen. Der Mannschaftsraum ist eine „Art Männerparadies“. Es gibt Whisky. Eingezogene Spitzenköche brillieren in ihren Küchencockpits. Soldatinnen „beten“ die Helden an und „bemitleiden“ sie gleichzeitig. Die „besten Bands“ sorgen für Unterhaltung. Yardena Arazi, „die schönste Frau Israels“, tritt mit ihrem Trio Shokolad, Menta, Mastik auf.
Der Flughafenkommandant wird bei einem Einsatz über Port Said abgeschossen.
Aus der Ankündigung
50 Jahre Jom-Kippur-Krieg - Im Oktober 1973 reiste der Dichter und Sänger Leonard Cohen - neununddreißig Jahre alt, berühmt, unglücklich und in einer kreativen Schaffenskrise - von seiner Heimat auf der griechischen Insel Hydra in das Chaos und Blutvergießen der Wüste Sinai, als Ägypten Israel am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, angriff. Mit einer Gitarre und einer Gruppe einheimischer Musiker zog Cohen an der Front umher und traf Hunderte junger Soldaten, Männer und Frauen, die sich im schlimmsten Moment ihres Lebens befanden. Diejenigen, die überlebten, haben diese Erfahrung nie vergessen. Und der Krieg veränderte auch Cohen. Er hatte angekündigt, seine Musikkarriere aufzugeben, aber stattdessen kehrte er nach Hydra und zu seiner Familie zurück und veröffentlichte eines der erfolgreichsten Alben seiner Karriere.
In „Wer durch Feuer“ schildert der Journalist Matti Friedman diese Wochen im Sinai in fesselnder Weise. Er stützt sich dabei auf Cohens bisher unveröffentlichte Texte und Originalberichte, um eine kaleidoskopische Darstellung eines erschütternden, prägenden Moments sowohl für ein junges Land im Krieg als auch für einen Sänger am Scheideweg zu schaffen.
Zum Autor
Matti Friedman ist ein mehrfach preisgekrönter Journalist und Autor, dessen Texte u. a. in der New York Times, The Atlantic, Tablet und Smithsonian veröffentlicht wurden. „Spione ohne Land – Geheime Existenzen bei der Gründung Israels“ wurde mit dem Natan Prize 2019 und dem Canadian Jewish Book Award ausgezeichnet. „Pumpkinflowers – Bericht eines Soldaten über einen vergessenen Krieg“ stand 2016 auf der Jahresliste der „100 Notable Books“ der New York Times und wurde auf Amazon zu einem der 10 besten Bücher des Jahres gekürt. Sein erstes Buch „Der Aleppo-Codex“ erhielt 2014 den Sami-Rohr-Preis und die ALA's-Sophie-Brody-Medaille. Matti Friedmann wurde in Toronto geboren und lebt in Jerusalem.