Mechanische Versöhnung
„Der Antisemitismus ist eine Variante des Antirassismus geworden, vor allem in Deutschland. Der Beweis ist Israel. Israel gilt als ein rassistischer Staat, der die Palästinenser unterdrückt.“ Alain Finkielkraut in einem Gespräch mit Benedict Neff in der NZZ am 01.11.2021, Quelle
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„Auf der offiziellen politischen Bühne erleben die Juden und der Staat Israel seit dem Hamas-Massaker alle Solidarität, die sie sich wünschen können. Aber im progressiven Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, in Kulturinstitutionen, in den Geisteswissenschaften, in NGOs schweigen viele, die sonst alle erdenklichen Formen von Gewalt und Mikroaggressionen anprangern.“ Jochen Buchsteiner am 22.10. 2023 in der FAZ, Quelle
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„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.“ Walter Benjamin
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„Der Einbruch des Lichts erfolgt in die allertiefste Dunkelheit.“ Bertolt Brecht
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„Woran dieser moderne Humanismus, dieser gute Wille zur Bescheidenheit immer wieder scheitert, ist die gleichermaßen moderne Hybris, die ihm zugrunde liegt, und die heimlich (bei Hofmannsthal) oder offen und naiv (bei Husserl) hofft, auf diese ganz unauffällige Weise doch noch das zu werden, was der Mensch nicht sein kann, Schöpfer der Welt und seiner selbst.“ Hannah Arendt, „Was ist Existenz-Philosophie?“
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Hannah Arendt sah in Rahel Varnhagen das Gegenmodell zum zur Assimilation entschlossenen „Parvenü“, der mit seinen Anstrengungen den „Paria-Status“ abzustreifen versucht.
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„Heidegger hat … in Vorlesungen versucht, seinen isolierten Selbsten in mythologisierenden Unbegriffen wie Volk und Erde wieder eine gemeinsame Grundlage nachträglich unterzuschieben. Es ist evident, dass derartige Konzeptionen nur aus Philosophie heraus- und in irgend einen naturalistischen Aberglauben hineinführen können. Wenn es nicht zum Begriff des Menschen gehört, dass er mit anderen, die seinesgleichen sind, die Erde zusammen bewohnt, bleibt nur eine mechanische Versöhnung, in der den atomisierten Selbsten eine ihrem Begriff wesentlich heterogene Grundlage gegeben wird.“ Hannah Arendt
Hotspot der Begegnung
„Das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen, schrieb der Schriftsteller Amos Elon. Arendt prägte maßgeblich zwei für die Beschreibung des 20. Jahrhunderts zentrale Begriffe: Totalitarismus und Banalität des Bösen.“ Aus dem Begleitband zu der Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ 2020 im Deutschen Historischen Museums (Berlin).
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„Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten.“ Hannah Arendt
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„Es ist vermutlich gar nicht möglich, Hannah Arendt zu lesen, ohne zugleich ihr Bild vor sich zu sehen und vor allem ihre Stimme zu hören. Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel spricht daher zu Recht vom Sound Arendts, den sie zu hören meint, wenn sie einen Text von ihr liest.“ Thomas Meyer
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Über die Ränder des von Thomas Meyer Dargestellten hinausschreibend, begreife ich die Biografie als Hotspot einer Begegnung mit Hannah Arendt.
Freistehende Leitfigur/Zwei Passagen
Ein Übergang quert den Coll de Rumpissar aka Ruta Líster (nach General Enrique Líster); der andere den Coll dels Belitres - Pass der Schurken. 1938/39 nutzen Republikaner:innen die historisch ausgetretenen Schmugglerrouten Richtung Frankreich, nachdem die Hoffnung auf Freiheit in Spanien zu Grabe getragen wurden. Im Februar Neununddreißig stranden massenhaft Kombattant:innen der weggebrochenen katalonischen Front (26. Abteilung) in Südfrankreich. Viele werden aufgegriffen und interniert im langen Winter der Anarchie. Der tragische Vorgang kursiert im kulturellen Gedächtnis als Retirada. Für die rechtsgerichtete französische Regierung ist dieser Rückzug eine „Massenflucht (exode massif) der Unerwünschten“.
„Les réfugiés espagnols en 1939, des indésirables“, Quelle
Monate später passieren Verfolgte den Schurkenpass, um von Frankreich nach Spanien zu gelangen. Nicht wenige, darunter Hannah Arendt (1906 - 1975), waren bis zu einer unverhofften Amnestie im Camp de Gurs interniert. Auch Walter Benjamin zählt zu den Freigekommenen, die, geführt von Lisa Fittko, und ausgehend von Banyuls-sur-Mer, die Pyrenäen auf einer Route überwindet, die heute als Chemin Walter Benjamin ausgeschildert ist. Der Saumpfad führt via Cerbère nach Portbou.
Thomas Meyer, „Hannah Arendt“, Biografie, Piper, 517 Seiten, 28.-
Wie Benjamin steht Hannah Arendt in Verbindung mit Varian Fry. Gemeinsam mit Miriam Davenport vertritt Fry das Emergency Rescue Committee in Marseille. Davenport und Fry versorgen eine lange Reihe deutscher Geistesgrößen mit Visa.
Generös zeigt sich ferner Aristides de Sousa Mendes, der als portugiesischer Generalkonsul in Bordeaux Geflüchteten ohne Ansehen der Person und ohne Rücksicht auf sein eigenes Schicksal hilft, bis man ihn abberuft und ächtet.
Viele Emigrant:innen verdanken ihre Freiheit Pablo Neruda, der als chilenischer Sonderbotschafter in Paris die Auswahl trifft und dabei über Anweisungen hinaushandelt.
Denken ohne Geländer
Sie untersuchte die Bedingungen des politischen Handelns im Zwanzigsten Jahrhundert. Ihre Urteile waren politisch furios und standen im Feuer der Kritik. Die wichtigste Denkerin des 20. Jahrhunderts plädierte für ein „Denken ohne Geländer“ in Abwesenheit eines absoluten Wahrheitsbegriffs.
Arendt entstand als freistehende Leitfigur unter dem Druck feindlicher Kräfte. Der Antisemitismus löste sie aus akademischen Zusammenhängen und zwang sie zu politischen Auffassungen. Sie kritisierte den politischen Zionismus, während sie ihm die Argumente lieferte.
Irgendwo referiert Micha Brumlik Arendts Feststellung einer „Anomalie: (diese) lag in der Tatsache, dass … ein Volk in eine politische Rolle gedrängt wurde, dass selbst keine politische Repräsentanz hatte“. Brumlik fasst nach: Arendts Analyse hatte zwei normative Voraussetzungen: 1. Juden sind im ethnischen Sinn ein Volk. 2. Erst der Nationalstaat vermag die Bürger:innen schützend in (seine) Rechte zu setzen. Zieht man die Positionen auf Arendts Linie zusammen, hat man die Begründung für den von Arendt kritisierten Nationalzionismus.
Die Nacht von Lissabon
Thomas Meyer steigt mit Stimmungen wie in Erich Maria Remarques Emigrantenroman „Die Nacht von Lissabon“ ein. Arendt und ihr Mann Heinrich Blücher schiffen sich am 10. Mai 1941 im Hafen der portugiesischen Hauptstadt ein. Auf der Passagierliste der Guiné, einem Schiff, wie aus einem Werk von Joseph Conrad, stehen illustre Namen. Der Biograf skizziert eine Reihe exemplarischer Emigrantenschicksale.
Dreizehn Tage währt die Überfahrt. Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Hannah Arendt - Die große Denkerin und ihr Werk - auf Basis neuer Quellen
„Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“ Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustin bis hin zum unvollendeten Opus magnum „Vom Leben des Geistes“ nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die ihre Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und macht dabei sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen „Hannah Arendt“ verständlicher.
Der hier gewählte Zugang unterscheidet sich radikal von der bisherigen Forschung. Erstmals werden bislang völlig unbekanntes Archivmaterial und andere zuvor ignorierte Dokumente herangezogen, um Arendt in ihrer Zeit dazustellen. Dabei konzentriert sich die Biografie auf zwei Lebensphasen Arendts: die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes „Origins of Totalitarianism“ 1951, auf Deutsch 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschienen.
Daraus ergeben sich neue Perspektiven auf Arendts revolutionäres Denken. Thomas Meyers Biografie ist der Ausgangspunkt für eine notwendige Neubewertung von Arendts Leben und Werk.
Zum Autor
Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert, darunter „Wir Flüchtlinge“ (2015) und „Die Freiheit, frei zu sein“ (2018).