Furien des Despotismus
„Zu den Eigenheiten von Akademikern und Intellektuellen gehört es, eine möglichst lange zurückreichende Geschichte des Interesses an den Gegenständen zu konstruieren, die man schließlich zum Beruf machte.“ Thomas Meyer
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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier.
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„Tatsächlich kann man (Hannah) Arendts Leben und Werk leicht von ihrem Verhältnis zu Literatur her erzählen.“ Thomas Meyer
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Im amerikanischen Exil fordert Arendt die Einklagbarkeit des Menschenrechts.
„Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“.
An anderer Stelle erklärt sie Staatlichkeit als zwingend notwendige Voraussetzung für die Rechtlichkeit der Basishumanität. Rückt man die Überlegungen zusammen, ergibt sich das Postulat: Die Juden brauchen einen eigenen Staat, in dem sie sich das Menschenrecht selbst garantieren.
Arendt entwickelt das Institut des „Rechts, Rechte zu haben“ zum Wohl von Entrechteten und kreiert so eine Gussform für Ansprüche. Ihr Biograf Thomas Meyer spricht von einer „Revolution des Menschenrechtsdiskurses. Von dieser Formel aus haben Feministinnen, Juristen, Philosophinnen und Menschenrechtsaktivisten eine Ausweitung der Rechte für staatenlose Flüchtlinge eingefordert.“
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In Rahel Varnhagen entdeckt Arendt eine Vorgängerin ihres persönlichen Sturms und Drangs. Obwohl Varnhagen konvertierte und in den christlichen Adel einheiratete, vermied sie (in Arendts Ableitung) den Parcours vom „Paria“ zum „Parvenü“ der Assimilation.
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„(Arendt schildert) Varnhagen als eine jüdische Monade, die durch den Zufall ihrer Herkunft einen Weg durch die Gesellschaft gehen muss, um bei sich selbst anzukommen, einem Selbst, das sich ganz gehört, nicht von außen bestimmt wird und durch außen auch kein angereichertes, emanzipiertes anderes Wesen wird. Kein Entwicklungsgang, keine Stufenbildung, kein Reifeprozess, so liest sich das.“ Thomas Meyer.
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Für die westlichen Zionisten sei „Palästina ein idealer Ort außerhalb der trostlosen Welt“ gewesen, ein Labor für idealistische Experimente. Micha Brumlik (meditiert so über dem Heidegger-Wort „Weltlosigkeit“)
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Über die Ränder des von Thomas Meyer Dargestellten hinausschreibend, begreife ich die Biografie als Hotspot einer Begegnung mit Hannah Arendt.
Revolution des Menschenrechtsdiskurses
Die 1906 in Linden, damals eine Industriestadt vor Hannover geborene Hannah Arendt wächst in Königsberg auf. Die ostpreußische Kapitale ist die Heimatstadt ihrer Eltern. Martha, geborene Cohn, und Max Arndt entstammen eingesessenen Honoratiorenfamilien. Mutter Martha studierte in Paris Französisch und Musik. Max, im Brotberuf Ingenieur, folgt seinen geistigen Interessen als Privatgelehrter. Die Erziehung der Tochter gehorcht selbstverständlich klassischen Bildungsbegriffen. Zur Familiengeschichte später mehr. Von 1924 - 1928 studiert Arendt u.a. bei Martin Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers. Unter der akademischen Aufsicht von Jaspers promoviert sie, zweiundzwanzigjährig, über den Liebesbegriff bei Augustin in Heidelberg.
Der Doktorvater fördert seine begabteste Schülerin mit dokumentierter Skepsis. Er rät zur Zurückhaltung durch die Blume wissenschaftlicher Argumente. Meyer betont, dass Jaspers Gattin Gertrud von Arend stets „als gleichberechtigte Partnerin ihres Mannes betrachtet (wird)“, auch in der Nachkriegskorrespondenz.
Thomas Meyer, „Hannah Arendt“, Biografie, Piper, 517 Seiten, 28.-
Im Banne Heideggers heiratet Arendt 1929 den Philosophen Günther Stern (Günther Anders). Die Verbindung ergibt sich „ohne Not oder weitere Gründe“. Das Paar etabliert sich zuerst in der (1939 Potsdam zugeschlagenen) Gründerzeitvillenkolonie Neubabelsberg (Nowawes). Die genaue Anschrift lautet Merkurstr. 3. Via Heidelberg ziehen die Arendt-Sterns bald nach Frankfurt am Main und wohnen da auch im Oeder Weg.
In ihrer mit einem Stipendium der „Deutschen Notgemeinschaft“ geförderten Habilitationsschrift widmet sich Arendt Leben und Werk der Rahel Varnhagen von Ense (1771 - 1833).
Die Französische Revolution habe den menschlichen Geist beschleunigt, meldete einst Karl August Varnhagen von Ense dem Freund Karl Georg Jacob.
„Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ erscheint erstmals erst in den späten 1950er Jahren. Arendt studiert Rahel Varnhagens schwer lesbare Korrespondenz und widmet die Untersuchung Anna Mendelssohn. Die Beschäftigung mit Varnhagen ist ein Sujet dieser Freundschaft. Die Konzentration auf eine Akteurin der Emanzipation entspricht einer politischen Manifestation in Zeiten des immer gefährlicher werdenden Antisemitismus.
Gemeinsame Vorgängerin/Sujet der Freundschaft
Rahel Varnhagens Salon vergesellschafte den „Augenblick einer sozialen Utopie“. Er endete 1806 mit dem Berliner Auftritt Napoleons. Die Löwin führte ihren Salon schriftlich weiter. Die Gastgeberin avancierte zur Femme de lettres. Arendt zeichnet den Weg aus dem warmen Regen eines Hoffnungsüberschusses hin zur resilienten Festungsexistenz in der 1955 erschienenen Abrechnung „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“.
Arendt sieht in Varnhagen das Gegenmodell zum - um Anerkennung bemühten, zur Assimilation entschlossenen - „Parvenü“, der mit seinen Anstrengungen den „Paria-Status“ abzustreifen versucht. Arendt erkennt in Varnhagen eine vorbildliche Akteurin auch insofern, als sich Varnhagen (nach Arendts Ableitung) der Assimilation verweigert.
Heideggers Glanzschülerin
Arendt dokumentiert für einen NSDAP-Watch antisemitische Propaganda. Sie engagiert sich in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. 1933 emigriert sie nach Paris. Sie assistiert Arnold Zweig. Vor allem engagiert sie sich in der 1933 von der Internationalen Zionistischen Frauenorganisation in der Regie von Recha Freier (1892 - 1984) gegründeten Kinder- und Jugend-Alija. 1935 reist Arendt mit einer einschlägigen Mission nach Palästina. In Jerusalem trifft sie erstmals Gershom Scholem, übrigens einem Cousin von Walter Benjamins Frau Dora. In einem Brief an Benjamin schildert Scholem die Alija-Aktivistin so:
„Sie war mal eine Glanzschülerin von Heidegger.“ Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Hannah Arendt - Die große Denkerin und ihr Werk - auf Basis neuer Quellen
„Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“ Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustin bis hin zum unvollendeten Opus magnum „Vom Leben des Geistes“ nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die ihre Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und macht dabei sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen „Hannah Arendt“ verständlicher.
Der hier gewählte Zugang unterscheidet sich radikal von der bisherigen Forschung. Erstmals werden bislang völlig unbekanntes Archivmaterial und andere zuvor ignorierte Dokumente herangezogen, um Arendt in ihrer Zeit dazustellen. Dabei konzentriert sich die Biografie auf zwei Lebensphasen Arendts: die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes „Origins of Totalitarianism“ 1951, auf Deutsch 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschienen.
Daraus ergeben sich neue Perspektiven auf Arendts revolutionäres Denken. Thomas Meyers Biografie ist der Ausgangspunkt für eine notwendige Neubewertung von Arendts Leben und Werk.
Zum Autor
Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert, darunter „Wir Flüchtlinge“ (2015) und „Die Freiheit, frei zu sein“ (2018).