„Die schleichende Institutionalisierung des Israelhasses wird dieser Tage deutlich ... Es war unüberhörbar. Der Kunstbetrieb hüllte sich nach den Hamas-Massakern an israelischen Zivilisten zunächst in Schweigen ... Mittlerweile aber hat der Kunstbetrieb seine Stimme wiedergefunden: Seit Tagen sorgt ein auf der Website des Kunstmagazins Artforum publizierter, von über 1000 internationalen Künstlern unterzeichneter offener Brief für Aufsehen. Sie bekunden ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk, unterstützen dessen Befreiung, sprechen tatsachenwidrig vom besetzten Gazastreifen und werfen Israel eine genozidale Politik vor. Vor allem aber schaffen es die Autoren, die Hamas mit keinem einzigen Wort zu erwähnen!“ Eugen El in der „Jüdischen Allgemeine“ vom 22.10. 2023, Quelle
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„Auf der offiziellen politischen Bühne erleben die Juden und der Staat Israel seit dem Hamas-Massaker alle Solidarität, die sie sich wünschen können. Aber im progressiven Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, in Kulturinstitutionen, in den Geisteswissenschaften, in NGOs schweigen viele, die sonst alle erdenklichen Formen von Gewalt und Mikroaggressionen anprangern.“ Jochen Buchsteiner am 22.10. 2023 in der FAZ, Quelle
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„Nach einer schon während der Hitlerzeit gemachten Beobachtung zwingt die organisatorische Schlagkraft der totalitären Systeme ihren Gegnern etwas von ihrem eigenen (totalitären) Wesen auf.“ Adorno
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„Soll ich gleich damit anfangen, dass jedes Gefühl auf zweierlei Weise in der Welt ist und den Ursprung von zwei Welten in sich trägt, die so verschieden sind wie Tag und Nacht. Oder tue ich besser daran, dass ich an die Beobachtung anknüpfe, die das ernüchterte Gefühl für unser Weltbild hat, und dann auf umgekehrtem Wege zu dem Einfluss komme, den unser aus Handeln und Wissen geborenes Weltbild auf das Bild ausübt, das wir uns von unseren Gefühlen machen.“ Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“
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In ihrem Buch über Existenzphilosophie sagt Hannah Arendt über ihren Doktorvater Karl Jaspers, er habe „seinen Bruch mit der überlieferten Philosophie in der Psychologie der Weltanschauungen vollzogen, in der er alle philosophischen Systeme als mythologisierende Gebäude darstellt und relativiert, in welche der Mensch sich schutzsuchend vor den eigentlichen Fragen seiner Existenz flüchtet“.
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Über die Ränder des von Thomas Meyer Dargestellten hinausschreibend, begreife ich die Biografie als Hotspot einer Begegnung mit Hannah Arendt.
Der Glamourfaktor
„(Mary McCarthy) zeigte unbedingte Meinungs- und Urteilsfreude, war frei im Umgang mit Männern, schon sehr früh wirtschaftlich unabhängig, zugleich völlig selbständig darin, sich die jeweiligen Rollen auszusuchen.“ Thomas Meyer
In den 1950er Jahren erscheint Hannah Arendt als markante Persönlichkeit im engsten Kreis um Mary McCarthy. In der „Welt der New Yorker Intellectuals“ reüssiert die amerikanische Gesellschaftslöwin nicht zuletzt mit einer Midcult-Formel. Der Begriff geht auf den Kritiker Dwight Macdonald zurück. Er koinzidiert mit einem Schlagwort der 1920er Jahre - Middlebrow. Middlebrow-Akteure schürfen im Kulturbetrieb das Gold der Anerkennung mit Beflissenheitsleistungen. Sie geben sich einen glänzenden Anstrich und polieren ihre Fassaden mit Kunstersatzhandlungen. Auch in ihren Arenen brilliert Arendt, ohne sich je gemein zu machen. Sie ist ein „Star“.
„Wer dies Gespräch hört und Dich sieht, wird nicht ausweichen können. Selbst Deine Feinde werden, wenn sie neue Argumente gegen Dich daraus holen, betroffen sein.“ Karl Jaspers nach der Ausstrahlung eines TV-Interviews, in dem Günter Gaus Hannah Arendt befragte. Die Aufzeichnung fand am 16.09. 1964 in einem Münchner ZDF-Studio statt. Gesendet wurde sie sechs Wochen später.
Ihre Analysen des Grauens verbinden sich mit dem Glamour der Unbefangenheit und einer unnachahmlichen „Qualmgrazie“. Die Philosophin lebt nicht bloß, vielmehr „residiert“ sie in New York. Meyer beschreibt Arendts medienintellektuelle Wirkung, die 1946 mit einem Radioauftritt beginnt. Zehn Jahre später „kann nur einer mit Arendts Präsenz im deutschen Rundfunk mithalten: (Arendts ‚Feind‘) Theodor W. Adorno“.
Durchgreifendes Selbstgefühl - Rückschau auf Hannah Arendts Beschäftigung mit Rahel Varnhagen ab den späten 1920er Jahren
In Rahel Varnhagen (1771 - 1833) entdeckt Hannah Arendt eine Vorgängerin ihres persönlichen Sturms und Drangs. Obwohl Varnhagen konvertierte und in den christlichen Adel einheiratete, vermied sie (in Arendts Deutung) den Parcours vom „Paria“ zum „Parvenü“ der Assimilation.
In ihrer mit einem Stipendium der „Deutschen Notgemeinschaft“ geförderten Habilitationsschrift widmet sich Arendt Leben und Werk der Rahel Varnhagen von Ense. „Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ erscheint erstmals in den späten 1950er Jahren. Arendt widmet die Untersuchung Anna Mendelssohn. Die Biografin schildert „Varnhagen als eine jüdische Monade, die durch den Zufall ihrer Herkunft einen Weg durch die Gesellschaft gehen muss, um bei sich selbst anzukommen, einem Selbst, das sich ganz gehört, nicht von außen bestimmt wird und durch außen auch kein angereichertes, emanzipiertes anderes Wesen wird. Kein Entwicklungsgang, keine Stufenbildung, kein Reifeprozess, so liest sich das.“
Hans Mayer zieht Rahel Varnhagen zu einem Vergleich mit George Sand heran. Varnhagen habe in ihrem Salon „den doppelten Skandal der jüdischen Herkunft und weiblichen Emanzipation überspielen (müssen)“.
Sands Urgroßvater zählte zur Riege der unehelichen Söhne von August dem Starken, dem Kurfürsten von Sachsen und König von Polen. Moritz von Sachsen (1696 - 1750) glänzte als „Maréchal de Saxe“ in französischen Diensten. Er war ein musischer Feldherr mit philosophischen Neigungen. Eine uneheliche, als Marie-Aurore de Saxe legitimierte Tochter, heiratete erst einen Grafen und dann einen reichen Greis, der sich nach einer angemessenen Zeugungsfrist in sein Grab zurückzog. 1793 erwarb die solvente Witwe jenen Landsitz in Nohant-Vic, der als Maison de George Sand historisch wurde.
Eine durchsetzungsfähige aristokratische Illegitimität verteidigte das biografische Zepter der höchst produktiven Schriftstellerin Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, besser bekannt als George Sand. Im Abendrot des Ancien Régime verband sich die Respektabilität mit „depravierter Halbwelt“.
Hans Mayer betrachtet eine - der Französischen Revolution geschuldeten - Permeabilität zwischen Oberschicht und Unterwelt. Er exponiert George Sands „widersprüchliche Herkunft zwischen europäischem Hochadel und Pariser Plebejertum“. Ihre Mutter Sophie Delaborde verbüßte eine Gefängnisstrafe. Die Tochter einer Gefallenen wuchs bei der begüterten Großmutter als höhere Enkelin auf. Achtzehnjährig heiratete sie den gleichfalls illegitimen Baron François Casimir Dudevant. Der Sohn einer Kellnerin und eines Offiziers ignorierte das Genie seiner Frau. Dies nur am Rand.
Geträumte Literatur
Nicht erst die Surrealistinnen träumten künstlerisch wertvoll. Gestaltete Träume sind Ausdruck durchgreifenden Selbstgefühls. Rahel Varnhagen träumte Literatur. Als Epochenfigur trug sie die Widersprüche ihrer Zeit in sich aus. Sie schloss den interessantesten personellen Konstellationen einer Ära Räume auf. Dennoch blieb sie Außenseiterin.
Mit zwanzig gründete die Berlinerin ihren ersten Salon. Clemens Brentano und Friedrich Schleiermacher kamen. 1806 marschierte Napoleon unter den Linden auf und Varnhagen begegnete ihrem Mann. Er war vierzehn Jahre jünger. Varnhagen erlebte mit ihm eine soziale Talfahrt, bevor sie wieder als gastgebende Hausherrin in der Französischen Straße Hof hielt.
Thomas Meyer, „Hannah Arendt“, Biografie, Piper, 517 Seiten, 28.-
In ihrem Tagebuch fixierte sie ihre Träume, von denen fünf zentral waren. Sie wurden 1812 notiert. Im Briefwechsel mit Alexander von der Marwitz malte sie ihre Träume aus: „Hören Sie diesen Traum. Es war ein großes Diner, man hatte auch schon Licht, denn es war Abend.“
Varnhagens Handschrift ist kaum zu entziffern. Arendt analysiert die mit sozialen Bedeutungen geladenen Schlafresultate als Sublimationen gesellschaftlicher Frustrationen.
„Was das Bewusstsein verdrängt, kehrt in der Nacht zurück.“
Varnhagen ließ sich im Alter von dreiundvierzig Jahren taufen. In den Träumen trat ihr Zorn auf: „Der Traum schreckt vor nichts zurück.“
Mit den gestalteten Träumen reagierte Varnhagen auf gesellschaftliche Gestaltungshemmnisse. Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Hannah Arendt - Die große Denkerin und ihr Werk - auf Basis neuer Quellen
„Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“ Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustin bis hin zum unvollendeten Opus magnum „Vom Leben des Geistes“ nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die ihre Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und macht dabei sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen „Hannah Arendt“ verständlicher.
Der hier gewählte Zugang unterscheidet sich radikal von der bisherigen Forschung. Erstmals werden bislang völlig unbekanntes Archivmaterial und andere zuvor ignorierte Dokumente herangezogen, um Arendt in ihrer Zeit dazustellen. Dabei konzentriert sich die Biografie auf zwei Lebensphasen Arendts: die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes „Origins of Totalitarianism“ 1951, auf Deutsch 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschienen.
Daraus ergeben sich neue Perspektiven auf Arendts revolutionäres Denken. Thomas Meyers Biografie ist der Ausgangspunkt für eine notwendige Neubewertung von Arendts Leben und Werk.
Zum Autor
Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert, darunter „Wir Flüchtlinge“ (2015) und „Die Freiheit, frei zu sein“ (2018).