„Dokumente der Niedertracht“
„Die schleichende Institutionalisierung des Israelhasses wird dieser Tage deutlich ... Es war unüberhörbar. Der Kunstbetrieb hüllte sich nach den Hamas-Massakern an israelischen Zivilisten zunächst in Schweigen ... Mittlerweile aber hat der Kunstbetrieb seine Stimme wiedergefunden: Seit Tagen sorgt ein auf der Website des Kunstmagazins Artforum publizierter, von über 1000 internationalen Künstlern unterzeichneter offener Brief für Aufsehen. Sie bekunden ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk, unterstützen dessen Befreiung, sprechen tatsachenwidrig vom besetzten Gazastreifen und werfen Israel eine genozidale Politik vor. Vor allem aber schaffen es die Autoren, die Hamas mit keinem einzigen Wort zu erwähnen!“ Eugen El in der „Jüdischen Allgemeine“ vom 22.10. 2023, Quelle
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„Auf der offiziellen politischen Bühne erleben die Juden und der Staat Israel seit dem Hamas-Massaker alle Solidarität, die sie sich wünschen können. Aber im progressiven Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, in Kulturinstitutionen, in den Geisteswissenschaften, in NGOs schweigen viele, die sonst alle erdenklichen Formen von Gewalt und Mikroaggressionen anprangern.“ Jochen Buchsteiner am 22.10. 2023 in der FAZ, Quelle
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„Das Problem Heidegger? Sein Fall zeigt besonders eindringlich, wie wenig eine große philosophische Leistung für sich allein zur Orientierung in der Welt genügt und wie wenig sie schon die Selbstständigkeit der Person garantiert.“ Hannah Arendt in einem Brief an den Ex-Kommilitonen Herbert Marcuse im Dezember 1947
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„(Hannah Arendt) glaubte (Heidegger) nicht, entschied früh, dass die Person gegebenenfalls aufgegeben werden musste, um seine Philosophie und sein Denken für sich retten zu können.“ Thomas Meyer über die Wiederbegegnung 1950
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„Du wirst sehen, dass das Buch keine Widmung trägt. Wäre es zwischen uns je mit rechten Dingen zugegangen … so hätte ich Dich gefragt, ob ich es Dir widmen darf; es ist unmittelbar aus den Freiburger Tagen entstanden und schuldet Dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles.“ Arendt in einem Brief an Heidegger im Geleit der Zusendung ihres Hauptwerks - Vita activa oder Vom tätigen Leben - im Jahr 1960.
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„Die Kultur als Machtmittel sich anzueignen und damit sich behaupten und eine Überlegenheit vorgeben, ist im Grunde ein jüdisches Gebaren.“ Martin Heidegger in seinen „Schwarzen Heften“, zitiert aus einer Rezension von Jürgen Kaube, die 2014 in der FAZ erschien. Der Kritiker spricht von „Dokumente(n) der Niedertracht“, Quelle
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Über die Ränder des von Thomas Meyer Dargestellten hinausschreibend, begreife ich die Biografie als Hotspot einer Begegnung mit Hannah Arendt.
Apostel der Antimoderne
„Wie sehr (Heidegger) … ‚Eichmann in Jerusalem‘ beschäftigte, ist schwer auszumachen. Hier hielt er sich an die Sicherheit des Schweigens.“
In den frühen 1930er Jahren dokumentiert Hannah Arendt für einen NSDAP-Watch antisemitische Propaganda. Sie engagiert sich in der Zionistische Vereinigung für Deutschland. 1933 emigriert sie nach Paris. Sie assistiert Arnold Zweig. Vor allem engagiert sie sich in der 1933 von der Internationalen Zionistischen Frauenorganisation in der Regie von Recha Freier (1892 - 1984) gegründeten Kinder- und Jugend-Alija. 1935 reist Arendt mit einer einschlägigen Mission nach Palästina. In Jerusalem trifft sie erstmals Gershom Scholem, übrigens einem Cousin von Walter Benjamins Frau Dora. In einem Brief an Benjamin schildert Scholem die Alija-Aktivistin so:
„Sie war mal eine Glanzschülerin von Heidegger.“
Thomas Meyer, „Hannah Arendt“, Biografie, Piper, 517 Seiten, 28,-
Das Sein spricht Deutsch
Die vielschichtig-irritierende Beziehung zu einem Apostel der Antimoderne („Das Sein spricht Deutsch“) veranlasst Arendt 1969 ihrem Denkvater und Ex-Liebhaber Martin Heidegger nachzusagen, er habe „die geistige Physiognomie des Jahrhunderts entscheidend mitbestimmt“.
„‚Heidegger ist der letzte Romantiker‘, schreibt … Arendt 1945: Der träumte von einem idealen Deutschland wie Platon vom idealen Staat. - Heidegger lebt im Philosophenhimmel, der hatte keine Ahnung von realer Politik. Ein verspieltes Denker-Genie, selbstverliebt, politisch naiv und komplett verantwortungslos.“ Susanne Mack in ihrer Deutschlandfunk-Besprechung von Antonia Grunenbergs „Hannah Arendt - Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe“, Quelle
Die Liebesgeschichte beginnt im Wintersemester 1924/1925. Bald schreibt der verheiratete, vom „jähe(n) Blitz“ getroffene Universitätslehrer: „Das Dämonische hat mich getroffen … noch nie ist mir so etwas geschehen“.
„Was nach Hegel kam, war entweder epigonal, oder es war Rebellion der Philosophen gegen Philosophie überhaupt, Rebellion gegen oder Verzweiflung an dieser Identität.“ Hannah Arendt
Meyer schildert Heidegger als „katholisch geprägten Entschiedenheitsvertreter“ und „heftige(n) Denker, dessen ungeheures Talent Freunde wie Feinde rasch (erkennen)“. Meyers Vorgängerin Elisabeth Young-Bruehl charakterisiert ihn als Herold einer „apolitischen Revolution“. Die Biografin schätzt Arendt im Ornat der Studierenden so ein: „Sie (lehnt) sowohl die epigonalen Metaphysiker als auch diejenigen ab, die der Philosophie zugunsten eines vagen und nebulösen Irrationalismus den Rücken (kehren), und so (geht) sie den Weg der Rebellen, die an der traditionellen Identität der Philosophie (zweifeln).“ Aus Elisabeth Young-Bruehls Biografie „Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit.“
Heidegger fordert Hingabe an einen „radikalen Neuanfang“ der Philosophie. Er wirkt als Magnet auf die (mitunter bereits akademisch beschlagenen) Geistesgiganten der ersten post-wilhelminischen Generation. Hans-Georg Gadamer, Leo Strauss, Gerhard Krüger, Herbert Marcuse („der Heidegger-Marxist“, Adorno), Karl Löwith - auch Hans Jonas (1903 - 1993) studiert zuerst in Freiburg bei Husserl und dann in Marburg bei Heidegger. Jonas gehört zu den hellen Köpfen einer Kohorte, deren Väter zugepackt und zur Gründerzeit das Ihre beigetragen hatten. Die klugen Söhne, denken Sie an Walter Benjamin und Franz Kafka, reagieren allergisch auf die tüchtigen Väter.
Die Vater-Sohn-Dissonanz wirkt sich auf das geistige Klima der ersten deutschen Republik aus.
Jonas „verliebt sich ein wenig … er schätzt die Freundschaft, die er mit (Arendt hat)“. Er macht sie mit Kurt Blumenfeld bekannt. 1933 verlässt Jonas Deutschland mit der Absicht, als „Soldat einer siegreichen Armee“ zurückzukehren. So geschieht es. Jonas trägt Heidegger nach: „Ein Philosoph durfte nicht hereinfallen auf die Nazisache.“
Trotz allem hält er „die Welt niemals für einen feindlichen Ort“. Er wendet sich gegen eine fatalistische Geschichtsauffassung. Mit seinem unerwarteten Bestseller „Prinzip Verantwortung - Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“ liefert Jonas den Kritiker:innen eines ungebremsten Wachstums in den westlichen Industrienationen Argumente.
Im „Gedankenlaboratorium Marburg“ befinden sich „lebenslang(e) Distanznahmen“ in der Probephase. Arendt ignoriert, so Meyer, Gadamer und Jacob Klein.
Sie schätzt den Exegese-Virtuosen und Begriffsarchäologen Rudolf Bultmann und liest die Dissertation ihres Jugendfreundes Ernst Grumach Korrektur. Wahrgenommen wird sie von Vertrauten als das „Das Mädchen aus der Fremde“. So lautet der Titel eines 1796 entstandenen Gedichts von Friedrich Schiller. Arendt bestätigt die Zuschreibung in einem 1927 verfassten Brief an Erwin Loewenson: „Sie haben Recht, dass die Welt und alles, was mich interessiert, mich letztlich nie trifft. Eben deshalb, weil ich in ihr nur eine Fremde bin.“ Zitiert nach Anne Bertheau, „Das Mädchen aus der Fremde. Hannah Arendt und die Dichtung“, Quelle
Anfang der 1950er Jahre erklärt sie sich gegenüber Heidegger: „Ich habe mich nie als deutsche Frau gefühlt und seit langem aufgehört, mich als jüdische Frau zu fühlen. Ich fühle mich als das, was ich nun einmal bin, das Mädchen aus der Fremde.“ Zitiert nach Anne Bertheau, „Das Mädchen aus der Fremde. Hannah Arendt und die Dichtung“, Quelle
Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Hannah Arendt - Die große Denkerin und ihr Werk - auf Basis neuer Quellen
„Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“ Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustin bis hin zum unvollendeten Opus magnum „Vom Leben des Geistes“ nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die ihre Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und macht dabei sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen „Hannah Arendt“ verständlicher.
Der hier gewählte Zugang unterscheidet sich radikal von der bisherigen Forschung. Erstmals werden bislang völlig unbekanntes Archivmaterial und andere zuvor ignorierte Dokumente herangezogen, um Arendt in ihrer Zeit dazustellen. Dabei konzentriert sich die Biografie auf zwei Lebensphasen Arendts: die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes „Origins of Totalitarianism“ 1951, auf Deutsch 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschienen.
Daraus ergeben sich neue Perspektiven auf Arendts revolutionäres Denken. Thomas Meyers Biografie ist der Ausgangspunkt für eine notwendige Neubewertung von Arendts Leben und Werk.
Zum Autor
Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert, darunter „Wir Flüchtlinge“ (2015) und „Die Freiheit, frei zu sein“ (2018).