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2023-10-26 20:42:12, Jamal

„Dokumente der Niedertracht“

„Am 7. Oktober 2023 wurden im Süden Israels von den Horden der Hamas unsägliche Grausamkeiten begangen. Die Pietät verbietet es, sich ein Bild davon zu machen … Die Grausamkeiten wurden gefilmt, gestreamt, verbreitet, die Hölle auf Erden für alle zugänglich.“ Natan Sznaider am 24. Oktober 2023 in der „Süddeutschen Zeitung“, Quelle

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„Liege ich falsch, wenn ich eine gewisse Kälte fühle, mit der man in Deutschland auf das Massaker der Hamas in Israel reagiert?“ Axel Hacke in der Süddeutschen Zeitung am 26.10. 2023, Quelle

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„Hieß es in den ersten Tagen: „Ja, ich bin entsetzt und solidarisch“, heißt es nun immer öfter: „Ja, aber …“ Viel zu schnell kommt dieses Aber. Der Zivilisationsbruch, der stattgefunden hat, die barbarische Gewalt, die wir erleben mussten, ist ein Massaker, in dem Empathie und Menschlichkeit keinen Platz hatten. Kann man nicht ein paar Wochen einfach nur trauern … und sich auf die Seite der Opfer stellen?“ Michel Friedman im Gespräch mit Cornelia Geißler, Berliner Zeitung vom 26.10. 2023, Quelle

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„Die schleichende Institutionalisierung des Israelhasses wird dieser Tage deutlich ... Es war unüberhörbar. Der Kunstbetrieb hüllte sich nach den Hamas-Massakern an israelischen Zivilisten zunächst in Schweigen ... Mittlerweile aber hat der Kunstbetrieb seine Stimme wiedergefunden: Seit Tagen sorgt ein auf der Website des Kunstmagazins Artforum publizierter, von über 1000 internationalen Künstlern unterzeichneter offener Brief für Aufsehen. Sie bekunden ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk, unterstützen dessen Befreiung, sprechen tatsachenwidrig vom besetzten Gazastreifen und werfen Israel eine genozidale Politik vor. Vor allem aber schaffen es die Autoren, die Hamas mit keinem einzigen Wort zu erwähnen!“ Eugen El in der „Jüdischen Allgemeine“ vom 22.10. 2023, Quelle

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„Auf der offiziellen politischen Bühne erleben die Juden und der Staat Israel seit dem Hamas-Massaker alle Solidarität, die sie sich wünschen können. Aber im progressiven Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, in Kulturinstitutionen, in den Geisteswissenschaften, in NGOs schweigen viele, die sonst alle erdenklichen Formen von Gewalt und Mikroaggressionen anprangern.“ Jochen Buchsteiner am 22.10. 2023 in der FAZ, Quelle

Schmetterlinge auf der Schlachtfeld

„Wenn man nicht selbst weiß, wofür man lebt, dann wird die Gesellschaft das für einen entscheiden.“ Viktor Frankl

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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier.

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„Das denkende Ich ist alles andere als das Selbst des Bewusstseins.“ Martin Heidegger

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„Wie einer, der am Reck die Riesenwelle schlägt, so schlägt man selber als Junge das Glücksrad, aus dem dann früher oder später das große Los fällt.“ Walter Benjamin

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„Diese Zeit ist voller Dramen. Alle Widersprüche kommen zugespitzt zum Vorschein. Wenn das hier (der Zweite Weltkrieg) vorbei ist, werden wir mehr Material haben als Shakespeare.“ Bertolt Brecht

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„Wenn aber an einem Tage des blutigsten Kampfes ein Knabe, der auf dem Schlachtfelde nach Schmetterlingen jagt, mir zwischen die Beine kömmt (Originalschreibweise) … so darf uns das, unbeschadet unserer Philosophie und Menschlichkeit, wohl ärgerlich machen.“ Ludwig Börne über Heinrich Heine

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Über die Ränder des von Thomas Meyer Dargestellten hinausschreibend, begreife ich die Biografie als Hotspot einer Begegnung mit Hannah Arendt.  

Mit allen Wassern der Konspiration

In den ersten Jahren ihres Exils hält Hannah Arendt Vorträge an der Pariser Volkshochschule. In diesem Umfeld begegnet ihr im Sommer 1936 erstmals Heinrich Blücher (1899 - 1970), ein so Meyer, mit allen Wassern der kommunistischen Konspiration gewaschener, autodidaktisch beschlagener, mit „intuitiver Intelligenz“ gesegneter Kader. Der schon zweimal verheiratete, vom Kommunismus allmählich abgerückte, inzwischen aus der KPD ausgeschlossene Ex-Funktionär (und nichtjüdische Zionist) agiert „geschickt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle“. Blücher schlängelt sich durch die Labyrinthe der Geflohenen und Verfolgten. Hier wie da erscheint er unfassbar. Mit einer noch klandestinen bürgerlichen Perspektive überwindet Blücher die Zeitstromschnellen.

Thomas Meyer, „Hannah Arendt“, Biografie, Piper, 517 Seiten, 28,-

Meyer deutet einen Gegensatz zwischen der markant konturierten, repräsentativ und vorbildlich wirkenden Emigrantin Arendt und dem vielschichtigen, seismografisch auf Unterströmungen reagierenden Blücher an. Obwohl Arendt 1937 bereits von ihren ersten Mann Günther Stern (Anders) geschieden ist, weist die Ausbürgerungsurkunde sie als Verheiratete aus. Die reichsdeutsche Bürokratie hält mit dem Gang privater Ereignisse im Leben der Philosophin und Generalsekretärin (der 1933 von der Internationalen Zionistischen Frauenorganisation in der Regie von Recha Freier (1892 - 1984) gegründeten) Kinder- und Jugend-Alija nicht Schritt. Am 12. Januar 1940 heiratet sie Blücher. Im Mai 1941 landet das Ehepaar in New York. Sofort nimmt Arendt ihre publizistische Tätigkeit wieder auf, nach acht Jahren der Abstinenz. Sie hat erst einmal nicht mehr als eine Schreibmaschine und einen Bibliotheksausweis.

Ab 1950 unterrichtet Blücher an der New School for Social Research. 1952 avanciert er zum Professor für Philosophie am Bard College in Annandale-on-Hudson. 

Revolution des Menschenrechtsdiskurses

Wie hältst du es mit den Minderheiten? Nach unserem Demokratieverständnis bewährt sich eine Gesellschaft da, wo schwach repräsentierte Gruppen nicht allein deshalb untergehen, weil sie ihre Interessen nicht mit mannschaftlicher Stärke verknüpfen können. Vielleicht geht diese Einsicht auf Arendt zurück. Jedenfalls erklärt sie 1943 in einer Analyse das Scheitern der europäischen Völkergemeinschaft mit dem Versagen gegenüber der „schwächsten Minderheit“.

Die nationalsozialistische Verfolgung der Juden beweist nicht nur ein Versagen Europas zum Nachteil Europas, sondern auch ein nationalstaatliches Desaster in jedem einzelnen Fall. So ungefähr sagt es Arendt. „Das jüdische Volk“* nimmt seine biblische Rolle als historisches Subjekt wieder ein.

* Ich folge Arendts jüdischem Volksbegriff. 

Im gleichen Zusammenhang fordert Arendt die Einklagbarkeit des Menschenrechts - „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“. An anderer Stelle erklärt sie den Staat als zwingend notwendige Voraussetzung für die Rechtlichkeit der Basishumanität.

Rückt man die Überlegungen zusammen, ergibt sich das Postulat: Die Juden brauchen einen eigenen Staat, in dem sie sich das Menschenrecht selbst garantieren.

Arendt entwickelt das Institut des „Rechts, Rechte zu haben“ zum Wohl von Entrechteten und kreiert so eine Gussform für Ansprüche. Meyer spricht von einer „Revolution des Menschenrechtsdiskurses. Von dieser Formel aus haben Feministinnen, Juristen, Philosophinnen und Menschenrechtsaktivisten eine Ausweitung der Rechte für staatenlose Flüchtlinge eingefordert“.

We Refugees

Arendt befasst sich mit „Flucht, Staatenlosigkeit und Minderheitenrechten“. Sie titelt: „We Refugees“. Historische Ereignisse beschränken „jüdische Lebensformen auf die Rollen von Flüchtlingen und Opfern“.     

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Hannah Arendt - Die große Denkerin und ihr Werk - auf Basis neuer Quellen

„Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“ Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustin bis hin zum unvollendeten Opus magnum „Vom Leben des Geistes“ nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die ihre Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und macht dabei sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen „Hannah Arendt“ verständlicher.

Der hier gewählte Zugang unterscheidet sich radikal von der bisherigen Forschung. Erstmals werden bislang völlig unbekanntes Archivmaterial und andere zuvor ignorierte Dokumente herangezogen, um Arendt in ihrer Zeit dazustellen. Dabei konzentriert sich die Biografie auf zwei Lebensphasen Arendts: die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes „Origins of Totalitarianism“ 1951, auf Deutsch 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschienen. 
Daraus ergeben sich neue Perspektiven auf Arendts revolutionäres Denken. Thomas Meyers Biografie ist der Ausgangspunkt für eine notwendige Neubewertung von Arendts Leben und Werk.

Zum Autor

Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert, darunter „Wir Flüchtlinge“ (2015) und „Die Freiheit, frei zu sein“ (2018).