„Dokumente der Niedertracht“
“While the world is quick to forget, for us time has stopped that day - for three weeks already it's October 7.” #Instagram, Source
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„Am 7. Oktober 2023 wurden im Süden Israels von den Horden der Hamas unsägliche Grausamkeiten begangen. Die Pietät verbietet es, sich ein Bild davon zu machen … Die Grausamkeiten wurden gefilmt, gestreamt, verbreitet, die Hölle auf Erden für alle zugänglich.“ Natan Sznaider am 24. Oktober 2023 in der „Süddeutschen Zeitung“, Quelle
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„Liege ich falsch, wenn ich eine gewisse Kälte fühle, mit der man in Deutschland auf das Massaker der Hamas in Israel reagiert?“ Axel Hacke in der Süddeutschen Zeitung am 26.10. 2023, Quelle
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„Hieß es in den ersten Tagen: „Ja, ich bin entsetzt und solidarisch“, heißt es nun immer öfter: „Ja, aber …“ Viel zu schnell kommt dieses Aber. Der Zivilisationsbruch, der stattgefunden hat, die barbarische Gewalt, die wir erleben mussten, ist ein Massaker, in dem Empathie und Menschlichkeit keinen Platz hatten. Kann man nicht ein paar Wochen einfach nur trauern … und sich auf die Seite der Opfer stellen?“ Michel Friedman im Gespräch mit Cornelia Geißler, Berliner Zeitung vom 26.10. 2023, Quelle
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„Die schleichende Institutionalisierung des Israelhasses wird dieser Tage deutlich ... Es war unüberhörbar. Der Kunstbetrieb hüllte sich nach den Hamas-Massakern an israelischen Zivilisten zunächst in Schweigen ... Mittlerweile aber hat der Kunstbetrieb seine Stimme wiedergefunden: Seit Tagen sorgt ein auf der Website des Kunstmagazins Artforum publizierter, von über 1000 internationalen Künstlern unterzeichneter offener Brief für Aufsehen. Sie bekunden ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk, unterstützen dessen Befreiung, sprechen tatsachenwidrig vom besetzten Gazastreifen und werfen Israel eine genozidale Politik vor. Vor allem aber schaffen es die Autoren, die Hamas mit keinem einzigen Wort zu erwähnen!“ Eugen El in der „Jüdischen Allgemeine“ vom 22.10. 2023, Quelle
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„Auf der offiziellen politischen Bühne erleben die Juden und der Staat Israel seit dem Hamas-Massaker alle Solidarität, die sie sich wünschen können. Aber im progressiven Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, in Kulturinstitutionen, in den Geisteswissenschaften, in NGOs schweigen viele, die sonst alle erdenklichen Formen von Gewalt und Mikroaggressionen anprangern.“ Jochen Buchsteiner am 22.10. 2023 in der FAZ, Quelle
In unendlich erhabener Ferne
Totalitäre Herrschaft beweist sich in der Fähigkeit, „Fälschungen und Lügen, wenn sie nur groß und kühn genug sind, als unbezweifelbare Tatsachen zu etablieren“. Hannah Arendt
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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier.
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„Die Revolutionäre des 18. Jahrhunderts hatten ihre guten Gründe, diese (mit Freiheit zusammenhängenden) Dinge zu verwechseln: es lag in der Natur der Sache, dass sie erst im Vollzug des Kampfes um die Befreiung das Wesen der Freiheit … entdeckten und erfuhren, was es heißt … in Freiheit zu handeln.“ Hannah Arendt
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In den ausgehenden 1950er Jahren vermisst Hannah Arendt eine angemessene Reaktion auf den Umstand, „dass von dem bestirnten Himmel über uns nun unsere Apparate und Geräte uns entgegenleuchten sollen“. Was könnte heute noch historischer sein als dieser Konjunktiv.
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„Was noch vor zehn Jahren in unendlich erhabener Ferne, in den schweigenden Regionen eines unnahbaren Geheimnisses lag, muss sich nun gefallen lassen, den Weltraumvorrat jenseits des Himmels, der sich um die Erde wölbt, mit irdisch-menschlichen Gegenständen zu teilen.“ Hannah Arendt um 1960
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„Was werden wir verlieren, wenn wir gewinnen?“ Hannah Arendt (im Zusammenhang mit der Frauenbewegung)
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Über die Ränder des von Thomas Meyer Dargestellten hinausschreibend, begreife ich die Biografie als Hotspot einer Begegnung mit Hannah Arendt.
Stalinistische Terrorpraxis und theatralische Monotonie
„Das Buch war ein Stein, der ins Wasser fiel, ohne Kreise zu ziehen.“
Das behauptet Thomas Meyer von Hannah Arendts 1958 publizierten Analyse der - nach den Maximen stalinistischer Terrorpädagogik - niedergeschlagenen Ungarischen Revolution von 1956. Siehe „Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus“.
Der Aufstand offenbarte eine Legitimationskrise des Hegemonen. Arendt extrahiert das Phänomen einer abrupt auftretenden Ohnmacht gewalttätiger Machthaber. Die Philosophin fasziniert der volkstümlich-führerlose Erhebungsakt. Arendt erkennt den „zündenden Funken des bewussten Willens der großen Volksmasse“ im Geist einer Rosa-Luxemburg-Prophezeiung.
Rosa Luxemburgs Idee von der spontanen Revolution sah Arendt auf Ungarns Straßen mit der Flüchtigkeit einer Fata Morgana verwirklicht.
„Dieser plötzliche Aufstand eines ganzen Volkes für die Freiheit und nichts sonst.“
„Der Wille zur Freiheit war die treibende Kraft bei jeder Aktion.“
Die letzte politische Geste des verlorenen Freiheitskampfes ergab sich in einem Trauermarsch durch das von sowjetischen Truppen besetzte Budapest. „(Ein) schwarze(r) Zug schweigender Frauen“ ehrte die Toten der Revolution. „Danach vertrieb der Terror wieder alle in die Dunkelheit ihrer Häuser, (während) die korruptesten … Elemente unter den ungarischen Moskau-Agenten“ die Regierung bildeten.
Arendt konstatiert eine ob der stalinistischen Seifenopern theatralische Monotonie der sowjetischen Herrschaft in den „Satellitenstaaten … von der Ostsee bis zur Adria“. Sie spricht von einer zwar grauenhaften, von Moskaus Misstrauen gegenüber den Marionetten paranoid determinierten, jedoch „uninteressanten Geschichte“. Die Autorin listet „automatische Geschehnisse … bewusste und unbewusste Wiederholungen“.
Adorno könnte widersprechend sekundieren: Den Nationalismus der in den Blöcken eingeschlossenen Staaten rückt Arendts Gegner in die Nähe von „Fiktionen“ angesichts „der untergeordneten Rolle“ einzelner Nationen (sprich der Ostblockstaaten abzüglich der UdSSR). Doch gerade in dieser Inferiorität entfalte sich das ideologische Inferno sowie die dämonischen Dimensionen des Nationalismus.
Denken Sie auch daran, dass der von Arendt hochgeschätzte Brecht …
Zwischenbemerkung zum Fatzer-Fragment
Der erste Weltkrieg im dritten Jahr. Eine Tankbesatzung steigt aus, vier Männer desertieren. Sie landen in Mülheim an der Ruhr, Brecht schrieb Mülheim mit unpassendem Mühlen-h. Er wurde nicht fertig mit seinem Fatzer.
„Wendet euch um und/verwandelt den krieg der Völker in/den krieg der klassen“, fordert Fatzer.
1953 kam Brecht auf das Fatzer-Fragment zurück, nach dem Aufstand vom 17. Juni. Pompös quittierte er die Lage:
„Zum ersten Mal hat die Klasse gesprochen.“
Brecht entdeckte die Feme-Fressen von 1918 in der Erhebung. Visagen des Faschismus. Brecht sagte es so.
Ängstliche Apathie
Der Aufstand war völlig unerwartet losgebrochen. Auch die Akteure des Widerstands wurden ohne Vorlauf von der Erhebung erfasst, aus ihrer ängstlichen Apathie gerissen und für einen Augenblick in den Rollen geschichtsmächtiger Subjekte geadelt.
„Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst.“ Rosa Luxemburg
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„Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für wen sie mit Leib und Leben eintreten.“ Friedrich Engels
Liberaler Leuchtturm
In der Aufbruchsära der 1960er Jahre ragt Arendt als liberaler Leuchtturm aus den „politisch unzuverlässigen“ Milieus der New York Intellectuals.
“The New York intellectuals were the first group of Jewish writers to come out of the immigrant milieu who did not define themselves through a relationship, nostalgic or hostile, to memories of Jewishness.” Irving Howe, Quelle
„Dogmatiker aller Couleur erkennen in der Philosophin eine „unsichere Kantonistin“. Nach einem Begriff von Renata Adler, rechnet Meyer seine Heldin zur „radikalen Mitte“.
Hannah Arendt und die Frauenfrage - Dazu bald mehr. Nur so viel vorab:
„Die Selbstreduktion auf etwas, was offensichtlich war, schien für Arendt kein Ausgangspunkt für eine Debatte unter Gleichen zu sein.“ Thomas Meyer
Arendts Betrachtungsmaßstab bleibt die Antike. „Die Antike ist für Arendt der Resonanzraum“ jener Begriffe, aus denen sich die „Ordnungssysteme menschlicher Gemeinschaften“ entwickelten, die im 20. Jahrhundert ihre Bankrotterklärungen unterschrieben.
Aus der Ankündigung
Hannah Arendt - Die große Denkerin und ihr Werk - auf Basis neuer Quellen
„Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“ Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustin bis hin zum unvollendeten Opus magnum „Vom Leben des Geistes“ nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die ihre Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und macht dabei sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen „Hannah Arendt“ verständlicher.
Der hier gewählte Zugang unterscheidet sich radikal von der bisherigen Forschung. Erstmals werden bislang völlig unbekanntes Archivmaterial und andere zuvor ignorierte Dokumente herangezogen, um Arendt in ihrer Zeit dazustellen. Dabei konzentriert sich die Biografie auf zwei Lebensphasen Arendts: die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes „Origins of Totalitarianism“ 1951, auf Deutsch 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschienen.
Daraus ergeben sich neue Perspektiven auf Arendts revolutionäres Denken. Thomas Meyers Biografie ist der Ausgangspunkt für eine notwendige Neubewertung von Arendts Leben und Werk.
Zum Autor
Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert, darunter „Wir Flüchtlinge“ (2015) und „Die Freiheit, frei zu sein“ (2018).