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2023-10-31 12:00:41, Jamal

„Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“ Hannah Arendt

„Dokumente der Niedertracht“

“While the world is quick to forget, for us time has stopped that day - for three weeks already it's October 7.” #Instagram, Source

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„Am 7. Oktober 2023 wurden im Süden Israels von den Horden der Hamas unsägliche Grausamkeiten begangen. Die Pietät verbietet es, sich ein Bild davon zu machen … Die Grausamkeiten wurden gefilmt, gestreamt, verbreitet, die Hölle auf Erden für alle zugänglich.“ Natan Sznaider am 24. Oktober 2023 in der „Süddeutschen Zeitung“, Quelle

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„Liege ich falsch, wenn ich eine gewisse Kälte fühle, mit der man in Deutschland auf das Massaker der Hamas in Israel reagiert?“ Axel Hacke in der Süddeutschen Zeitung am 26.10. 2023, Quelle

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„Hieß es in den ersten Tagen: „Ja, ich bin entsetzt und solidarisch“, heißt es nun immer öfter: „Ja, aber …“ Viel zu schnell kommt dieses Aber. Der Zivilisationsbruch, der stattgefunden hat, die barbarische Gewalt, die wir erleben mussten, ist ein Massaker, in dem Empathie und Menschlichkeit keinen Platz hatten. Kann man nicht ein paar Wochen einfach nur trauern … und sich auf die Seite der Opfer stellen?“ Michel Friedman im Gespräch mit Cornelia Geißler, Berliner Zeitung vom 26.10. 2023, Quelle

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„Die schleichende Institutionalisierung des Israelhasses wird dieser Tage deutlich ... Es war unüberhörbar. Der Kunstbetrieb hüllte sich nach den Hamas-Massakern an israelischen Zivilisten zunächst in Schweigen ... Mittlerweile aber hat der Kunstbetrieb seine Stimme wiedergefunden: Seit Tagen sorgt ein auf der Website des Kunstmagazins Artforum publizierter, von über 1000 internationalen Künstlern unterzeichneter offener Brief für Aufsehen. Sie bekunden ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk, unterstützen dessen Befreiung, sprechen tatsachenwidrig vom besetzten Gazastreifen und werfen Israel eine genozidale Politik vor. Vor allem aber schaffen es die Autoren, die Hamas mit keinem einzigen Wort zu erwähnen!“ Eugen El in der „Jüdischen Allgemeine“ vom 22.10. 2023, Quelle

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„Auf der offiziellen politischen Bühne erleben die Juden und der Staat Israel seit dem Hamas-Massaker alle Solidarität, die sie sich wünschen können. Aber im progressiven Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, in Kulturinstitutionen, in den Geisteswissenschaften, in NGOs schweigen viele, die sonst alle erdenklichen Formen von Gewalt und Mikroaggressionen anprangern.“ Jochen Buchsteiner am 22.10. 2023 in der FAZ, Quelle

Der Wille zur Freiheit

Im amerikanischen Exil fordert Hannah Arendt die Einklagbarkeit des Menschenrechts.

„Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“.

An anderer Stelle erklärt sie Staatlichkeit als zwingend notwendige Voraussetzung für die Rechtlichkeit der Basishumanität. Rückt man die Überlegungen zusammen, ergibt sich das Postulat: Die Juden brauchen einen eigenen Staat, in dem sie sich das Menschenrecht selbst garantieren.

Arendt entwickelt das Institut des „Rechts, Rechte zu haben“ zum Wohl von Entrechteten und kreiert so eine Gussform für Ansprüche. Ihr Biograf Thomas Meyer spricht von einer „Revolution des Menschenrechtsdiskurses. Von dieser Formel aus haben Feministinnen, Juristen, Philosophinnen und Menschenrechtsaktivisten eine Ausweitung der Rechte für staatenlose Flüchtlinge eingefordert.“

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In Rahel Varnhagen entdeckt Arendt eine Vorgängerin ihres persönlichen Sturms und Drangs. Obwohl Varnhagen konvertierte und in den christlichen Adel einheiratete, vermied sie (in Arendts Ableitung) den Parcours vom „Paria“ zum „Parvenü“ der Assimilation.

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„(Arendt schildert) Varnhagen als eine jüdische Monade, die durch den Zufall ihrer Herkunft einen Weg durch die Gesellschaft gehen muss, um bei sich selbst anzukommen, einem Selbst, das sich ganz gehört, nicht von außen bestimmt wird und durch außen auch kein angereichertes, emanzipiertes anderes Wesen wird. Kein Entwicklungsgang, keine Stufenbildung, kein Reifeprozess, so liest sich das.“ Thomas Meyer.

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„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.“ Walter Benjamin

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„Der Einbruch des Lichts erfolgt in die allertiefste Dunkelheit.“ Bertolt Brecht

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„Woran dieser moderne Humanismus, dieser gute Wille zur Bescheidenheit immer wieder scheitert, ist die gleichermaßen moderne Hybris, die ihm zugrunde liegt, und die heimlich (bei Hofmannsthal) oder offen und naiv (bei Husserl) hofft, auf diese ganz unauffällige Weise doch noch das zu werden, was der Mensch nicht sein kann, Schöpfer der Welt und seiner selbst.“ Hannah Arendt, „Was ist Existenz-Philosophie?“

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„Es ist vermutlich gar nicht möglich, Hannah Arendt zu lesen, ohne zugleich ihr Bild vor sich zu sehen und vor allem ihre Stimme zu hören. Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel spricht daher zu Recht vom Sound Arendts, den sie zu hören meint, wenn sie einen Text von ihr liest.“ Thomas Meyer

Revolution des Menschenrechtsdiskurses

Die 1906 in Linden, damals eine Industriestadt vor Hannover geborene Hannah Arendt wächst in Königsberg auf. Die ostpreußische Kapitale ist die Heimatstadt ihrer Eltern. Martha, geborene Cohn, und Max Arndt entstammen eingesessenen Honoratiorenfamilien. Mutter Martha studierte in Paris Französisch und Musik. Max, im Brotberuf Ingenieur, folgt seinen geistigen Interessen als Privatgelehrter. Die Erziehung der Tochter gehorcht selbstverständlich klassischen Bildungsbegriffen. Von 1924 - 1928 studiert Arendt u.a. bei Martin Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers. Unter der akademischen Aufsicht von Jaspers promoviert sie, zweiundzwanzigjährig, über den Liebesbegriff bei Augustin in Heidelberg.

Der Doktorvater fördert seine begabteste Schülerin mit dokumentierter Skepsis. Er rät zur Zurückhaltung durch die Blume wissenschaftlicher Argumente. Meyer betont, dass Jaspers Gattin Gertrud von Arend stets „als gleichberechtigte Partnerin ihres Mannes betrachtet (wird)“, auch in der Nachkriegskorrespondenz. 

Thomas Meyer, „Hannah Arendt“, Biografie, Piper, 517 Seiten, 28.-

Im Banne Heideggers heiratet Arendt 1929 den Philosophen Günther Stern (Günther Anders). Die Verbindung ergibt sich „ohne Not oder weitere Gründe“. Das Paar etabliert sich zuerst in der (1939 Potsdam zugeschlagenen) Gründerzeitvillenkolonie Neubabelsberg (Nowawes). Die genaue Anschrift lautet Merkurstr. 3. Via Heidelberg ziehen die Arendt-Sterns bald nach Frankfurt am Main. 

In ihrer mit einem Stipendium der „Deutschen Notgemeinschaft“ geförderten Habilitationsschrift widmet sich Arendt Leben und Werk der Rahel Varnhagen von Ense (1771 - 1833).

„Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ erscheint erstmals in den späten 1950er Jahren. Arendt studiert Rahel Varnhagens schwer lesbare Korrespondenz und widmet die Untersuchung Anna Mendelssohn. Die Beschäftigung mit Varnhagen ist ein Sujet dieser Freundschaft. Die Konzentration auf eine Akteurin der Emanzipation entspricht einer politischen Manifestation in Zeiten des immer gefährlicher werdenden Antisemitismus.

Gemeinsame Vorgängerin/Sujet der Freundschaft

Rahel Varnhagens Salon vergesellschafte den „Augenblick einer sozialen Utopie“. Er endete 1806 mit dem Berliner Auftritt Napoleons. Die Löwin führte ihren Salon schriftlich weiter. Die Gastgeberin avancierte zur Femme de lettres. Arendt zeichnet den Weg aus dem warmen Regen eines Hoffnungsüberschusses hin zur resilienten Festungsexistenz auch in der 1955 erschienenen Abrechnung „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ nach.

Arendt sieht in Varnhagen das Gegenmodell zum - um Anerkennung bemühten, zur Assimilation entschlossenen - „Parvenü“, der mit seinen Anstrengungen den „Paria-Status“ abzustreifen versucht. Arendt erkennt in Varnhagen eine vorbildliche Akteurin auch insofern, als sich Varnhagen (nach Arendts Ableitung) der Assimilation verweigert.

Heideggers Glanzschülerin

Arendt dokumentiert für einen NSDAP-Watch antisemitische Propaganda. Sie engagiert sich in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. 1933 emigriert sie nach Paris. Sie assistiert Arnold Zweig. Vor allem engagiert sie sich in der 1933 von der Internationalen Zionistischen Frauenorganisation in der Regie von Recha Freier (1892 - 1984) gegründeten Kinder- und Jugend-Alija. 1935 reist Arendt mit einer einschlägigen Mission nach Palästina. In Jerusalem trifft sie erstmals Gershom Scholem, übrigens einem Cousin von Walter Benjamins Frau Dora. In einem Brief an Benjamin schildert Scholem die Alija-Aktivistin so:

„Sie war mal eine Glanzschülerin von Heidegger.“   

Die vielschichtig-irritierende Beziehung zu einem Apostel der Antimoderne („Das Sein spricht Deutsch“) veranlasst Arendt 1969 ihrem Denkvater und Ex-Liebhaber Martin Heidegger nachzusagen, er habe „die geistige Physiognomie des Jahrhunderts entscheidend mitbestimmt“.

„‚Heidegger ist der letzte Romantiker‘, schreibt … Arendt 1945: Der träumte von einem idealen Deutschland wie Platon vom idealen Staat. - Heidegger lebt im Philosophenhimmel, der hatte keine Ahnung von realer Politik. Ein verspieltes Denker-Genie, selbstverliebt, politisch naiv und komplett verantwortungslos.“ Susanne Mack in ihrer Deutschlandfunk-Besprechung von Antonia Grunenbergs „Hannah Arendt - Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe“, Quelle

Die Liebesgeschichte begann im Wintersemester 1924/1925. Bald schrieb der verheiratete, vom „jähe(n) Blitz“ getroffene Universitätslehrer: „Das Dämonische hat mich getroffen … noch nie ist mir so etwas geschehen“.

„Was nach Hegel kam, war entweder epigonal, oder es war Rebellion der Philosophen gegen Philosophie überhaupt, Rebellion gegen oder Verzweiflung an dieser Identität.“ Hannah Arendt

Meyer schildert Heidegger als „katholisch geprägten Entschiedenheitsvertreter“ und „heftige(n) Denker, dessen ungeheures Talent Freunde wie Feinde rasch (erkennen)“. Meyers Vorgängerin Elisabeth Young-Bruehl charakterisiert ihn als Herold einer „apolitischen Revolution“. Die Biografin schätzt Arendt im Ornat der Studierenden so ein: „Sie lehnte sowohl die epigonalen Metaphysiker als auch diejenigen ab, die der Philosophie zugunsten eines vagen und nebulösen Irrationalismus den Rücken kehrten, und so ging sie den Weg der Rebellen, die an der traditionellen Identität der Philosophie zweifelten.“ Aus Elisabeth Young-Bruehls Biografie „Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit.“  

Heidegger forderte Hingabe an einen „radikalen Neuanfang“ der Philosophie. Er wirkte als Magnet auf die (mitunter bereits akademisch beschlagenen) Geistesgiganten der ersten post-wilhelminischen Generation. Hans-Georg Gadamer, Leo Strauss, Gerhard Krüger, Herbert Marcuse („der Heidegger-Marxist“, Adorno), Karl Löwith - auch Hans Jonas (1903 - 1993) studierte zuerst in Freiburg bei Husserl und dann in Marburg bei Heidegger. Jonas gehörte zu den hellen Köpfen einer Kohorte, deren Väter zugepackt und zur Gründerzeit das Ihre beigetragen hatten. Die klugen Söhne, denken Sie an Walter Benjamin und Franz Kafka, reagierten allergisch auf die tüchtigen Väter.

Jonas „verliebte sich ein wenig … er schätzte die Freundschaft, die er mit (Arendt hatte)“. Er machte sie mit Kurt Blumenfeld bekannt. 1933 verließ Jonas Deutschland mit der Absicht, als „Soldat einer siegreichen Armee“ zurückzukehren. So geschah es. Jonas trug Heidegger nach: „Ein Philosoph durfte nicht hereinfallen auf die Nazisache.“

Im „Gedankenlaboratorium Marburg“ befanden sich „lebenslang(e) Distanznahmen“ in der Probephase. Arendt ignorierte, so Meyer, Gadamer und Jacob Klein.  

Sie schätzte den Exegese-Virtuosen und Begriffsarchäologen Rudolf Bultmann und las die Dissertation ihres Jugendfreundes Ernst Grumach Korrektur. Wahrgenommen wurde sie von Vertrauten als das „Das Mädchen aus der Fremde“. So lautet der Titel eines 1796 entstandenen Gedichts von Friedrich Schiller. Arendt bestätigte die Zuschreibung in einem 1927 verfassten Brief an Erwin Loewenson: „Sie haben Recht, dass die Welt und alles, was mich interessiert, mich letztlich nie trifft. Eben deshalb, weil ich in ihr nur eine Fremde bin.“ Zitiert nach Anne Bertheau, „Das Mädchen aus der Fremde. Hannah Arendt und die Dichtung“, Quelle

Mit allen Wassern der Konspiration

In den ersten Jahren ihres Exils hält Arendt Vorträge an der Pariser Volkshochschule. In diesem Umfeld begegnet ihr im Sommer 1936 erstmals Heinrich Blücher (1899 - 1970), ein so Meyer, mit allen Wassern der kommunistischen Konspiration gewaschener, autodidaktisch beschlagener, mit „intuitiver Intelligenz“ gesegneter Kader. Der schon zweimal verheiratete, vom Kommunismus allmählich abgerückte, inzwischen aus der KPD ausgeschlossene Ex-Funktionär (und nichtjüdische Zionist) agiert „geschickt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle“. Blücher schlängelt sich durch die Labyrinthe der Geflohenen und Verfolgten. Hier wie da erscheint er unfassbar. Mit einer noch klandestinen bürgerlichen Perspektive überwindet Blücher die Zeitstromschnellen.

Meyer deutet einen Gegensatz zwischen der markant konturierten, repräsentativ und vorbildlich wirkenden Emigrantin Arendt und dem vielschichtigen, seismografisch auf Unterströmungen reagierenden Blücher an. Obwohl Arendt 1937 bereits von ihren ersten Mann Günther Stern (Anders) geschieden ist, weist die Ausbürgerungsurkunde sie als Verheiratete aus. Die reichsdeutsche Bürokratie hält mit dem Gang privater Ereignisse im Leben der Philosophin und Generalsekretärin der Internationalen Zionistischen Frauenorganisation nicht Schritt. Am 12. Januar 1940 heiratet sie Blücher. Im Mai 1941 landet das Ehepaar in New York. Sofort nimmt Arendt ihre publizistische Tätigkeit wieder auf, nach acht Jahren der Abstinenz. Sie hat erst einmal nicht mehr als eine Schreibmaschine und einen Bibliotheksausweis.

Ab 1950 unterrichtet Blücher an der New School for Social Research. 1952 avanciert er zum Professor für Philosophie am Bard College in Annandale-on-Hudson. 

Grelle Analyse

„Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals.“ Bertolt Brecht

„Nicht Maß und Mitte konnten nach (Arendts) Auffassung, die Maßstäbe zur Beurteilung der Lage sein, sondern die grelle, zugleich faktenbasierte Analyse.“ So urteilt Meyer über die Publizistin in der Frühzeit ihres amerikanischen Exils. Ab 1941 äußert sich Arendt als Kolumnistin zwei Mal pro Monat unter der Überschrift This means You „schonungslos“ zu den großen Themen. Die Meinungsbeiträge erscheinen in dem wöchentlich kursierenden Periodikum Aufbau. Sie oszillieren zwischen drei Polen: den Ansichten der Autorin zu jenen Entwicklungen, die zur Gründung Israels führen, ihre Deutungen von Migration und Menschenrechten, und ihre Sicht auf den Faschismus.

„Der Antisemitismus hat die Juden überlebt.“

Adorno bezeichnet den Antisemitismus als „Planke in der Plattform“ des Nachkriegsrechtsradikalismus. Ihrem Mann schreibt Arendt 1949 aus Deutschland:

„Weißt Du eigentlich, wie recht Du hattest, nie wieder zurückzuwollen?“

Arendt deprimieren die rasanten Restitutionen zum Vorteil der nationalsozialistischen Funktionselite. Es werde im großen Stil investiert, schreibt sie. „Entnazifizierte SS-Führer“ kämen mit viel Geld in das Casino der neuen Zeit. Raubgoldgerüchte kursieren. Investigationen in diese Richtung hält Arendt für lebensgefährlich.

Der Glamourfaktor

Anfang der 1950er Jahre erklärt sich Arendt gegenüber Heidegger: „Ich habe mich nie als deutsche Frau gefühlt und seit langem aufgehört, mich als jüdische Frau zu fühlen. Ich fühle mich als das, was ich nun einmal bin, das Mädchen aus der Fremde.“ Zitiert nach Anne Bertheau, „Das Mädchen aus der Fremde. Hannah Arendt und die Dichtung“, Quelle 

In Amerika ragt Arendt als liberaler Leuchtturm aus den „politisch unzuverlässigen“ Milieus der New York Intellectuals. Sie erscheint als markante Persönlichkeit im engsten Kreis um Mary McCarthy. In der „Welt der New Yorker Intellectuals“ reüssiert McCarthy nicht zuletzt mit einer Midcult-Formel. Der Begriff geht auf den Kritiker Dwight Macdonald zurück. Er koinzidiert mit einem Schlagwort der 1920er Jahre - Middlebrow. Middlebrow-Akteure schürfen im Kulturbetrieb das Gold der Anerkennung mit Beflissenheitsleistungen. Sie geben sich einen glänzenden Anstrich und polieren ihre Fassaden mit Kunstersatzhandlungen. Auch in ihren Arenen brilliert Arendt, ohne sich je gemein zu machen. Sie ist ein „Star“.

The New York intellectuals were the rst group of Jewish writers to come out of the immigrant milieu who did not dene themselves through a relationship, nostalgic or hostile, to memories of Jewishness.” Irving Howe, Quelle

„Dogmatiker aller Couleur erkennen in Arendt eine „unsichere Kantonistin“. Nach einem Begriff von Renata Adler, rechnet Meyer seine Heldin zur „radikalen Mitte“. Ihr Betrachtungsmaßstab bleibt die Antike. „Die Antike ist für Arendt der Resonanzraum“ jener Begriffe, aus denen sich die „Ordnungssysteme menschlicher Gemeinschaften“ entwickelten, die im 20. Jahrhundert ihre Bankrotterklärungen unterschrieben.     

„Wer dies Gespräch hört und Dich sieht, wird nicht ausweichen können. Selbst Deine Feinde werden, wenn sie neue Argumente gegen Dich daraus holen, betroffen sein.“ Karl Jaspers nach der Ausstrahlung eines TV-Interviews, in dem Günter Gaus Hannah Arendt befragte. Die Aufzeichnung fand am 16.09. 1964 in einem Münchner ZDF-Studio statt. Gesendet wurde sie sechs Wochen später.

Arendts Analysen des Grauens verbinden sich mit dem Glamour der Unbefangenheit und einer unnachahmlichen „Qualmgrazie“. Die Philosophin lebt nicht bloß, vielmehr „residiert“ sie in New York. Meyer beschreibt Arendts medienintellektuelle Wirkung, die 1946 mit einem Radioauftritt beginnt. Zehn Jahre später „kann nur einer mit Arendts Präsenz im deutschen Rundfunk mithalten: (Arendts ‚Feind‘) Theodor W. Adorno“.   

Rücksichtslose Güte

„Was das Bewusstsein verdrängt, kehrt in der Nacht zurück.“ Hannah Arendt

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„(Hannah Arendt) war … die erste Medienintellektuelle … den ihr Thema war ganz und gar das, von dem Medien vorgeben, es sei von ihnen erfunden und geprägt: erfahrene Gegenwärtigkeit.“ Thomas Meyer

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„(Karl) Jaspers … war … ein öffentlicher Intellektueller, der es sich … leisten konnte … die Jahrzehnte zu überblicken, ohne sich je korrumpiert zu haben, wobei er mit philosophischer Weisheit und rücksichtsloser Güte auf den Menschen an sich schaute.“ Thomas Meyer

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„Wenn man nicht selbst weiß, wofür man lebt, dann wird die Gesellschaft das für einen entscheiden.“ Viktor Frankl

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„Das denkende Ich ist alles andere als das Selbst des Bewusstseins.“ Martin Heidegger

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In ihrem Buch über Existenzphilosophie sagt Hannah Arendt über ihren Doktorvater Karl Jaspers, er habe „seinen Bruch mit der überlieferten Philosophie in der Psychologie der Weltanschauungen vollzogen, in der er alle philosophischen Systeme als mythologisierende Gebäude darstellt und relativiert, in welche der Mensch sich schutzsuchend vor den eigentlichen Fragen seiner Existenz flüchtet“.

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„Man … (kann) sich nur als das wehren … als was man angegriffen wird. Ein als Jude angegriffener Mensch kann sich nicht als Engländer oder Franzose wehren.“ Hannah Arendt

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„Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher.“ Hannah Arendt

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„Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.“ Hannah Arendt

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„Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“ Hannah Arendt

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Totalitäre Herrschaft beweist sich in der Fähigkeit, „Fälschungen und Lügen, wenn sie nur groß und kühn genug sind, als unbezweifelbare Tatsachen zu etablieren“. Hannah Arendt  

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„Die Revolutionäre des 18. Jahrhunderts hatten ihre guten Gründe, diese (mit Freiheit zusammenhängenden) Dinge zu verwechseln: es lag in der Natur der Sache, dass sie erst im Vollzug des Kampfes um die Befreiung das Wesen der Freiheit … entdeckten und erfuhren, was es heißt … in Freiheit zu handeln.“ Hannah Arendt

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In den ausgehenden 1950er Jahren vermisst Hannah Arendt eine angemessene Reaktion auf den Umstand, „dass von dem bestirnten Himmel über uns nun unsere Apparate und Geräte uns entgegenleuchten sollen“. Was könnte heute noch historischer sein als dieser Konjunktiv.  

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„Was noch vor zehn Jahren in unendlich erhabener Ferne, in den schweigenden Regionen eines unnahbaren Geheimnisses lag, muss sich nun gefallen lassen, den Weltraumvorrat jenseits des Himmels, der sich um die Erde wölbt, mit irdisch-menschlichen Gegenständen zu teilen.“ Hannah Arendt um 1960

Stalinistische Seifenopern und theatralische Monotonie

„Das Buch war ein Stein, der ins Wasser fiel, ohne Kreise zu ziehen.“

Das behauptet Meyer von Arendts 1958 publizierten Analyse der - nach den Maximen stalinistischer Terrorpädagogik - niedergeschlagenen Ungarischen Revolution von 1956. Siehe „Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus“.

Der Aufstand offenbarte eine Legitimationskrise des Hegemonen. Arendt extrahiert das Phänomen einer abrupt auftretenden Ohnmacht gewalttätiger Machthaber. Die Philosophin fasziniert der volkstümlich-führerlose Erhebungsakt. Arendt erkennt den „zündenden Funken des bewussten Willens der großen Volksmasse“ im Geist einer Rosa-Luxemburg-Prophezeiung.

Rosa Luxemburgs Idee von der spontanen Revolution sah Arendt auf Ungarns Straßen mit der Flüchtigkeit einer Fata Morgana verwirklicht.

„Dieser plötzliche Aufstand eines ganzen Volkes für die Freiheit und nichts sonst.“

„Der Wille zur Freiheit war die treibende Kraft bei jeder Aktion.“

Die letzte politische Geste des verlorenen Freiheitskampfes ergab sich in einem Trauermarsch durch das von sowjetischen Truppen besetzte Budapest. „(Ein) schwarze(r) Zug schweigender Frauen“ ehrte die Toten der Revolution. „Danach vertrieb der Terror wieder alle in die Dunkelheit ihrer Häuser, (während) die korruptesten … Elemente unter den ungarischen Moskau-Agenten“ die Regierung bildeten.

Arendt konstatiert eine ob der stalinistischen Seifenopern theatralische Monotonie der sowjetischen Herrschaft in den „Satellitenstaaten … von der Ostsee bis zur Adria“. Sie spricht von einer zwar grauenhaften, von Moskaus Misstrauen gegenüber den Marionetten paranoid determinierten, jedoch „uninteressanten Geschichte“. Die Autorin listet „automatische Geschehnisse … bewusste und unbewusste Wiederholungen“.

Adorno könnte widersprechend sekundieren: Den Nationalismus der in den Blöcken eingeschlossenen Staaten rückt Arendts Gegner in die Nähe von „Fiktionen“ angesichts „der untergeordneten Rolle“ einzelner Nationen (sprich der Ostblockstaaten abzüglich der UdSSR). Doch gerade in dieser Inferiorität entfalte sich das ideologische Inferno sowie die dämonischen Dimensionen des Nationalismus.

Ängstliche Apathie

Der Aufstand war völlig unerwartet losgebrochen. Auch die Akteure des Widerstands wurden ohne Vorlauf von der Erhebung erfasst, aus ihrer ängstlichen Apathie gerissen und für einen Augenblick in den Rollen geschichtsmächtiger Subjekte geadelt.

„Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst.“ Rosa Luxemburg

In unendlich erhabener Ferne

„Was noch vor zehn Jahren in unendlich erhabener Ferne, in den schweigenden Regionen eines unnahbaren Geheimnisses lag, muss sich nun gefallen lassen, den Weltraumvorrat jenseits des Himmels, der sich um die Erde wölbt, mit irdisch-menschlichen Gegenständen zu teilen.“

Das verkündet Arendt im Vorspann zu Vita activa oder Vom tätigen Leben. Das Werk erscheint in der Frühphase der Raumfahrt. Der Wettlauf zum Mond entspricht einer Signatur des Kalten Krieges. Der Menetekel-Charakter der Sputnik-Ära und die sowjetische Kosmos-Dominanz lassen den Westen frösteln.

Die Autorin stellt ihren Betrachtungen ein Gedicht von Bertolt Brecht voran.

War der Himmel noch so groß und still und fahl/Jung und nackt und ungeheuer wunderbar/Wie ihn Baal einst liebte, als Baal war.

Arendt wundert sich über ausbleibenden „Jubel (und) Triumph“ in der Folge astronautischer Pionierleistungen. Sie vermisst die Pietät des Schauderns angesichts der Tatsache, „dass von dem bestirnten Himmel über uns nun unsere eigenen Apparate und Geräte uns entgegenleuchten sollen“. Offenbar ahnt Arendt die Vermüllung des Alls voraus.

Sie zitiert einen russischen Wissenschaftler mit den Worten „Nicht für immer wird die Menschheit an die Erde gefesselt bleiben“.

Sagte das vielleicht Konstantin Ziolkowski?

„Es stimmt, die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben. Das Sonnensystem wird unser Kindergarten.“  Konstantin Ziolkowski

Arendt erkennt, dass sich mit den „neuesten Errungenschaften der Technik … Allerweltsvorstellungen von gestern und vorgestern“ verbinden.

„Die Wissenschaft hat nur verwirklicht, was Menschen geträumt haben, und sie hat nur bestätigt, dass Träume keine Phantasie zu bleiben brauchen.“

Arendt streift die die Stellung des Menschen im Kosmos. Sie setzt das Wort in Anführungsstriche, um es als Allgemeinplatz zu identifizieren.  

„Das Leben … (kann) in diese(r) künstliche(n) Welt nie ganz … aufgehen.“

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„Es könnte immerhin sein, dass es für erdgebundene Wesen, die handeln, als seien sie im Weltall beheimatet, auf immer unmöglich ist, die Dinge, die sie solcherweise tun, auch zu verstehen, d. h. denkend über sie zu sprechen.“

Hellsichtig für möglich hält Arendt um 1960 eine genetische Bindung der Menschheit an die Erde, die uns so einengt, dass wir mit Erfindungen dagegen vorgehen werden, bis uns endlich „Maschinen … das Denken und Sprechen abnehmen“.