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2023-11-02 12:25:31, Jamal

„Dokumente der Niedertracht“

„In Berlin feiern Menschen das Massaker auf den Straßen, Häuser werden mit Davidsternen markiert, Synagogen werden attackiert in Deutschland, Großbritannien, Wien und so weiter ... Seit dem Überfall der Hamas auf Israel hat es allein in Deutschland 1800 antisemitische Straftaten gegeben, und es werden stündlich mehr.“ Nele Pollatschek am 02.11. 2023 in der „Süddeutschen Zeitung“, Quelle

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“While the world is quick to forget, for us time has stopped that day - for ... weeks already it's October 7.” #Instagram, Source

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„Am 7. Oktober 2023 wurden im Süden Israels von den Horden der Hamas unsägliche Grausamkeiten begangen. Die Pietät verbietet es, sich ein Bild davon zu machen … Die Grausamkeiten wurden gefilmt, gestreamt, verbreitet, die Hölle auf Erden für alle zugänglich.“ Natan Sznaider am 24. Oktober 2023 in der „Süddeutschen Zeitung“, Quelle

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„Liege ich falsch, wenn ich eine gewisse Kälte fühle, mit der man in Deutschland auf das Massaker der Hamas in Israel reagiert?“ Axel Hacke in der Süddeutschen Zeitung am 26.10. 2023, Quelle

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„Hieß es in den ersten Tagen: „Ja, ich bin entsetzt und solidarisch“, heißt es nun immer öfter: „Ja, aber …“ Viel zu schnell kommt dieses Aber. Der Zivilisationsbruch, der stattgefunden hat, die barbarische Gewalt, die wir erleben mussten, ist ein Massaker, in dem Empathie und Menschlichkeit keinen Platz hatten. Kann man nicht ein paar Wochen einfach nur trauern … und sich auf die Seite der Opfer stellen?“ Michel Friedman im Gespräch mit Cornelia Geißler, Berliner Zeitung vom 26.10. 2023, Quelle

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„Die schleichende Institutionalisierung des Israelhasses wird dieser Tage deutlich ... Es war unüberhörbar. Der Kunstbetrieb hüllte sich nach den Hamas-Massakern an israelischen Zivilisten zunächst in Schweigen ... Mittlerweile aber hat der Kunstbetrieb seine Stimme wiedergefunden: Seit Tagen sorgt ein auf der Website des Kunstmagazins Artforum publizierter, von über 1000 internationalen Künstlern unterzeichneter offener Brief für Aufsehen. Sie bekunden ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk, unterstützen dessen Befreiung, sprechen tatsachenwidrig vom besetzten Gazastreifen und werfen Israel eine genozidale Politik vor. Vor allem aber schaffen es die Autoren, die Hamas mit keinem einzigen Wort zu erwähnen!“ Eugen El in der „Jüdischen Allgemeine“ vom 22.10. 2023, Quelle

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„Auf der offiziellen politischen Bühne erleben die Juden und der Staat Israel seit dem Hamas-Massaker alle Solidarität, die sie sich wünschen können. Aber im progressiven Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, in Kulturinstitutionen, in den Geisteswissenschaften, in NGOs schweigen viele, die sonst alle erdenklichen Formen von Gewalt und Mikroaggressionen anprangern.“ Jochen Buchsteiner am 22.10. 2023 in der FAZ, Quelle

Irrsinn als Mittel der Erkenntnis

In Clarice Lispectors literarischen Kolumnen (mondän publiziert im Jornal do brasil) dominiert das Episodische, Flüchtige, Vergebliche. Die Miniaturen entsprechen einem portugiesischen und brasilianischen Genre: der Crônica. In „Unsterbliche Liebe“ bekennt die Autorin ein von Skrupeln belastetes Verhältnis zu den poetischen, wohl auch dem Erwerbsdruck geschuldeten Glossen.

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Lispectors Prosa trifft den Leser stets unvorbereitet. Sie bewahrt ihr Geheimnis und hört deshalb nicht auf, überraschend zu sein. Ihre Strudel fesseln den Erfassten. Er verliert sich wie in Labyrinthen.

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„Jetzt eine Bitte (an den Setzer): Sehen Sie davon ab, mich zu verbessern. Die Interpunktion ist der Atem des Satzes, und meine Sätze atmen so.“ Clarice Lispector

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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier.

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Imre Kertész über sich: „Er trägt Baskenmütze wie ein Sonntagsmaler, das schrecklichste Verhängnis hat ihn erreicht: die Altersweisheit.“

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„Europa … zählt in etwa noch so viel wie eine Haselnuss, die in einem Nussknacker steckt.“ Bruno Latour

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„In der Einsamkeit der Flughäfen/Atme ich auf Ich bin/ein Privilegierter Mein Ekel/ist ein Privileg.“ Heiner Müller

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Im Haus meiner Großeltern sprach man den jüdischen Dialekt von Bagdad. Man sprach Arabisch auf den Märkten und stand hoch in der Achtung der Händler. Ilanit verwandte Gewürze und servierte Soßen, die Produkte uralter irakisch-babylonischer Fernhandelsbeziehungen waren. In der greisen Magd steckte mehr Welt als in mir. Eine Phantasie; ich beziehe mich auf Eva Illouz und Mati Shemoelof.

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„Warum darf ich nicht in Lumpen herumlaufen, wie die Männer, die ich manchmal auf der Straße sehe, mit einem Bart bis zur Brust und einer Bibel in der Hand, die den Irrsinn zu einem Mittel der Erkenntnis gemacht haben.“ CL

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„Ich würde … gerne etwas … unternehmen, das die gespannte Sehne sprengt, die mein Herz an seinem Platz hält.“ CL

Zerstreute Ohren/Beherrschte Gier

Clarice ‚Chaya‘ Lispector kam 1920 im ukrainischen Tschetschelnyk als jüngste von drei Töchtern russisch-jüdischer Eltern zur Welt. Die Familie floh vor Pogromen via Hamburg nach Maceió. In Brasilien fand sie eine neue Heimat.

Clarice Lispector, „Wofür ich mein Leben gebe. Kolumnen 1946 - 1977“, herausgegeben und aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Luis Ruby, Penguin Verlag, 28.-

In Lispectors literarischen Kolumnen (mondän publiziert im Jornal do brasil) dominiert das Episodische, Flüchtige, Vergebliche. Die Miniaturen unterliegen einem portugiesischen und brasilianischen Genre: der Crônica. In „Unsterbliche Liebe“ bekennt die Autorin ein von Skrupeln belastetes Verhältnis zu den poetischen, wohl auch dem Erwerbsdruck geschuldeten Glossen.

„Ich fühle mich fast so, als würde ich meine Seele verkaufen.“

Lispector fährt gern Taxi und sucht die Unterhaltung mit den Fahrern. Das doppelte Vergnügen erklärt sie zur „Marotte“. Sie sammelt Geschichten, die zu ihr kommen wie streunende Katzen. Die Autorin bürstet sie gegen den Strich und hebt die Schätze unbewusster Preisgaben liederlicher Geheimnisse. Manchmal stößt man bei ihr auch „auf zerstreute Ohren“.

Die Kolumnistin feiert die Jahreszeiten. In jeder neuen Saison verzehrt sie „noch das kleinste Krümelchen“ des Lebens „mit beherrschter Gier“.

Lispector verarbeitet keine großen Stoffe, aber die Detailzeichnungen, die Säume und Bordüren sind reines Erzählgold. Nicht aus dem Sinn geht mir eine Geschichte aus der Zeit als man Kinder - im Rahmen praktischer Angelegenheiten - in die Obhut von Äbtissinnen gab. So regelten Leute Erbfragen. Sie klärten so Versorgungsansprüche und ihre Versagung. So kam Clara ins Kloster.

Prädestination spielte keine Rolle.

„Sie war auf Druck der Familie eingetreten“, erklärt Clarice Lispector in „Besser als Feuersqualen“, siehe „Aber es wird regnen“.

Die Autorin schildert ein wuchtiges Temperament, ein „großes, kräftiges, behaartes Mädchen“. Klaglos absolviert es den Pflichtparcours. Allein, es fühlt nicht, was es fühlen soll; aller Inbrunst zum Trotz.

Clara beichtet täglich. Sie unterwirft sich dem Klosterregime in totaler Hingabe. Sie sucht Rat und tut Buße.

Bei der Selbstgeißelung beschädigt sie sich selbst. Sie schläft auf Steinplatten und geht im härenen Hemd.

Die Spielarten der Not einer Unberufenen sind den Garant:innen der klösterlichen Ordnung bis zu den Feinzeichnungen geläufig. Lispector beschreibt eine Konstellation verbotener Lust, in der ein Priester zum Komplizen wird. Wann immer er Clara die Hostie auf die Lippen legt, geraten die Geweihten in eine sexuelle Spannung, die sie nicht voreinander verbergen können.  

„Zwischen ihnen bestand eine stumme Vereinbarung. Beide kasteiten sich.“ 

Lispector schildert die Stadien einer Eskalation.

„Clara ertrug es nicht länger, den fast nackten Leib Christi zu sehen.“

Sie beginnt eine unbeholfene Verführung, indem sie ihrem Beichtvater erzählt, dass sie sich die Beine „insgeheim“ rasiert. Sie lenkt seine Aufmerksamkeit auf ihren Körper. Lispector spricht von „wohlgeformt“. Sie wiederholt sich, wenn sie darauf hinweist, wie „kräftig“ die Gliedmaßen der Verzweifelten sind.

Am vorläufigen Ende der Geschichte gestattet die Klosterleitung Clara den Austritt. Clara gibt nichts auf. Da war nichts für sie. Das wird herausgemeißelt. Darum dreht sich das Geschehen. Clara gefällt dem nächstbesten Krämer. Er lässt sie das Kokoskonfekt nicht bezahlen, dass sie bei ihm zu kaufen beabsichtigt. Die Ereignisse überschlagen sich. Bald schon flaniert man gemeinsam über die Dorfmagistrale.

Der Kaufmann zeigt sich im Anzug entflammt. Er schneidet (macht) Clara die Cour (faire la cour). Ihre Zustimmung steht außer Frage. Bereits auf der Hochzeitsreise wird Clara schwanger. Vier Söhne kriegt sie im weiteren Verlauf, „allesamt behaart“ wie Lispector beinah schon nachträglich bemerkt. Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Die Entdeckung des »Kosmos Clarice Lispector« geht weiter: So persönlich war die Ikone der modernen Literatur noch nie zu erleben

Clarice Lispector, eine der literarischen Ikonen des 20. Jahrhunderts, schrieb zeit ihres Lebens für Zeitungen, so u.a. zwischen 1969 und 1973 für das »Jornal do Brasil«, das führende Presseorgan des Landes, in dem sie eine wöchentliche Kolumne führte. Berühmt für ihre expressiven, das Innerste ihrer Figuren nach außen kehrenden Romane und Kurzgeschichten, erzählte Lispector hier von ihrem eigenen Alltag, verwandelte persönliche Erlebnisse und Erinnerungen in tiefgründige, berührende, häufig humorvolle kurze Episoden. Die verlorene Liebe eines Taxifahrers, die bittere Wahrheit hinter der Schönheit einer alten Freundin, ihre eigene Familie und ihr Aufwachsen: In allem entdeckt Lispector die Widersprüche und Eigenheiten des Leben. Auch über ihr Schreiben reflektiert sie in den Kolumnen immer wieder, teilt ihre Leseerfahrungen und schlägt eine Brücke zur brasilianischen Musik ihrer Zeit. Lispectors ureigener Blick auf die Welt, so ernst wie spielerisch, so heiter wie kontemplativ, offenbart echte Perlen der Erkenntnis und bringt uns die Schriftstellerin so nahe wie nie zuvor. Luis Ruby, gerühmter Übersetzer von Lispectors Romanen und Erzählungen ins Deutsche, hat für diesen Band die unterhaltsamsten und aufschlussreichsten Kolumnen ausgewählt und kommentiert. »Eine wirklich außergewöhnliche Schriftstellerin.« Jonathan Franzen – »Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.« Orhan Pamuk

Zur Autorin

Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

Zum Herausgeber und Übersetzer

Luis Ruby, 1970 in München geboren, übersetzt neben Clarice Lispector Autoren wie Hernán Ronsino, Eduardo Halfon und Niccolò Ammaniti. Er wurde für seine Arbeit u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Münchner Literaturstipendium ausgezeichnet.