Historische Ränder
„Mein politisches Sendungsbewusstsein ... (hielt sich stets) in Grenzen.“ Stefan Aust
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„Die Natur weiß mehr Auswege als jeder Politiker.“ Alexander Kluge
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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier.
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„Eine liberale bürgerliche Demokratie muss vom Individuum ausgehen, nicht vom Kollektiv.“ Stefan Aust
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„1929 hätte es beinah sein können, dass die russische kommunistische Regierung … die Börse in New York aufkauft … Das sind die historischen Ränder, die Unwahrscheinlichkeiten.“ Alexander Kluge
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„Als die Russen aus Afghanistan abgezogen sind, weil sie den Krieg gegen die Taliban dort nicht gewinnen konnten, hat das den Untergang der Sowjetunion eingeleitet. Als die Amerikaner sich zurückgezogen haben aus Afghanistan, haben die Russen gedacht: Die sind auch nicht stärker als wir. Das hat sicher bei den Überlegungen von Putin, in die Ukraine einzufallen, eine Rolle gespielt.“ Stefan Aust
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„Wir leben in einer Welt der Unbestimmtheit, des Unheimlichen, wir haben ein Sensorium für Ballungen von Zufall, für Auswege, für Notausgänge, für Minenfelder.“ Alexander Kluge
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„Ich habe mir die Entwicklung des Terrorismus angesehen und bemerkt, dass das starke religiöse Züge hat, der Ursprung sind die evangelischen Pfarrhäuser.“ Stefan Aust
„Jede neue Zeit muss ihre Erfahrungen im Verhältnis zu … einfachen Erzählweisen (Catchpenny, Balladen, Moritaten, Laterna-Magica-Bildfolgen, Jahrmarktspanoramen, Guckkastenbilder, Kino) testen.“ Alexander Kluge
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„Die einfachste Lösung ist meistens die richtige.“ Stefan Aust im Gespräch Alexander Kluge 2001
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„Man sah Walter Benjamin, wenn er den Zirkus besuchte, stets schreibend. Er besuchte den Zirkus als Produzent, nicht als Konsument. Er saß in einer der Logen in der ersten Reihe und schrieb. So, als würde er bezahlt, als warte die Redaktion einer Hauptstadtzeitung dringlich auf seinen Artikel. Tatsächlich schrieb er für die Ewigkeit.“ Alexander Kluge
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„Ratlos ist kein negatives Attribut. Ratlosigkeit ist ein Zustand, der Suchbegriffe in Gang setzt. Besser ratlos als tatenlos.“ Alexander Kluge
Kongeniale Republiknabel
Im apokalyptischen Jetzt der Gleichzeitigkeit von Ereignis & Information unterhalten sich die Publizisten Alexander Kluge und Stefan Aust über alles Mögliche. Sie beanspruchen für sich „Sachlichkeit und Einfühlung“.
Stefan Aust, Alexander Kluge, „Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit, Gespräche und Projekte“, 335 Seiten, Piper, 24,-
Als kongeniale Nabel dieser Republik verbinden Kluge und Aust ihre Biografien mit deutschen Großereignissen. Aust begreift sich als „teilnehmender Beobachter“. Er erzählt von einem Onkel, der sich an einem Lehrer vergriff und sich so um das Abitur brachte. Jener Reinhard Aust wanderte aus und bewies in der Neuen Welt ein abenteuerliches Herz. Er schlug sich als Trapper und Cowboy durch. Sein Vater, ein Entrepreneur von eigenen Gnaden, der vom Postkartenproduzenten zum Reeder aufgestiegen war, und sich im feinsten Hamburger Quartier, namentlich am „Elbabhang von Blankenese“, etabliert hatte, rief den verlorenen Sohn lange vergeblich zur Ordnung. Als Reinhard den familiären Sirenengesängen schließlich erlag, erfasste ihn der Krieg, kaum das er 1939 deutschen Boden betreten hatte. Der Neffe dazu (aus dem Gedächtnis, ich finde die Stelle nicht mehr): Das kommt davon, wenn man keine Zeitung liest.
Nach dem Tod des reichen Opas verschleuderte Stefans Vater sein Erbe in eskapistischen Unternehmungen. Er legte sich Pferde zu, die - mit großem Schauwert - in Wildwestmanier eingeritten wurden.
Stefan und seine Geschwister halten sich gut im Sattel. Die Reiterei gehört zu Austs Kraut- & Rüben-Jugend.
„Ich bin ein Kind vom Land.“
Darauf kommt Aust zu sprechen, wie auch auf das Segeln, als einem weiteren Leitmotiv seines Lebens.
Der frühe Aust arbeitete für konkret und hatte ständig mit Ulrike Meinhof zu tun. Er flog von Hamburg nach Berlin, wo er die APO-Chefs Christian Semler, Bahman Nirumand und Peter Schneider kennenlernte. Damals startete die Aust-Rakete synchron mit dem Sechzigerjahre-Superding zwischen Highlife, Sex und politischer Radikalität. Aust bekennt gleichsam postum, bei Weitem nicht so links gewesen zu sein wie andere. Doch spielte das keine Rolle in den 1960er Jahren. Der Sturm des Aufbruchs riss den Debütanten mit.
„Meine politische Abstinenz war Ulrike Meinhof nicht verborgen geblieben, und sie meinte in manchen Redaktionsgesprächen ganz von oben herab: Du bist einfach unpolitisch.“
Ulrike Meinhof erlaubte es der Gruppe, die Zukunft ihrer Kinder „zu planen“. Die beiden 1970 siebenjährigen Zwillinge Bettina und Regine sollten in einem palästinensischen Kinderguerilla-Ausbildungslager untergebracht werden. Klaus Rainer Röhl, Vater der dem Wahnsinn Anheimgefallenen, schaltete Interpol ein. Die Ermittler:innen ermittelten vergeblich. Die Politkrieger:innen hielten Bettina und Regine vorläufig auf Sizilien versteckt.
Zitate aus: Stefan Aust, „Zeitreise - die Autobiografie“, Piper, 26,-
Da kam Aust ins Spiel. Er kriegte den Aufenthaltsort der Kinder spitz, flog nach Palermo und gab sich als Akteur der Gruppe aus. Die Unterstützer:innen ließen sich eine Bärin aufbinden, so dass sich Aust mit den Mädchen aus dem Staub machen konnte. Der Befreier führte die Kinder (noch in Italien) ihrem Vater zu, dem sie einigermaßen entfremdet waren. Die Mutter hatte ihnen den Vater als Faschisten klargemacht.
In einem Zusammenhang mit dieser Rettung verhandeln Kluge und Aust an zwei Stellen im Buch Austs Unterstützung für exponierte afghanische Akteurinnen, die nach der Machtübernahme der Taliban mit dem Schlimmsten rechnen mussten.
An anderer Stelle beschreibt Aust Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl als „linkes Erfolgspaar mit Eigenheim und Urlaubsreisen nach Sylt“. Für Meinhof vertrat der junge Mann und „Mädchen für alles“ in der Redaktion einen populistischen „Illustriertenkurs“. Aust erschien der Grande Dame der Revolte als Auflagenfetischist ohne politischen Charakter, während die konkret-Starautorin sich radikalisierte - auch unter dem Eindruck der Ereignisse vom 2. Juni 1967, als bei einer Demonstration gegen Schah Mohammad Reza Pahlavi in West-Berlin der Polizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg erschoss. (Noch wussten Wenige, dass Kurras MfS-Agent war.) Die RAF der ersten Stunde betrat die Arena. Denken Sie an Baader-Meinhofs „Heimkampagne“. Stichwort Bambule.
Als Free Lancer flog Aust via Paris nach Algier zum Panafrikanischen Kulturfestival (vom 21. Juli bis zum 1. August 1969.) Er hoffte, den vom FBI zur Fahndung ausgeschriebenen, seit 1969 in Algerien lebenden Black Panther und Autor von „Seele auf Eis“ Eldridge Cleaver (1935–1998) zu treffen.
In Algerien waren alle Freiheitskämpfer:innen willkommen. Präsident Houari Boumedienne hielt es mit der Sowjetunion. Das Festivalkolloquium bot Repräsentant:innen der Black Panthers und der palästinensischen El Fatah einen Präsentationsrahmen. Es gab Kollaborationen mit der jungen Roten Armee Fraktion. Den Kulturkampf verstand man als Verlängerung des bewaffneten Kampfes. Die Ehre gaben sich nicht zuletzt Miriam Makeba - Amampondo, live at the Alger Pan African Festival 1969 und Archie Shepp.
Aus der Ankündigung
Wenn in Deutschland zwei Menschen eine spannende Bilanz ziehen können, dann sind das Stefan Aust und Alexander Kluge. Der Journalist und der Filmemacher kennen sich seit über 40 Jahren, seit der Zusammenarbeit am Film „Der Kandidat“. Von da an entstanden und entstehen immer wieder neue Unternehmungen, anregende Gespräche und tiefgründige Analysen. In ihrem neuesten gemeinsamen Projekt gewähren Aust und Kluge Einblick in ihre Werkstätten. Von der Vergangenheit bis in die Zukunft, von bewältigten Krisen zu aktuellen Herausforderungen wird hier ein Debattenbeitrag geboten, der zum Denken anregt.
Zu den Autoren
Stefan Aust, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Er begann bei der Zeitschrift konkret und arbeitete dann viele Jahre bei Panorama, wo sein Bericht über ein verschwiegenes Todesurteil, das der Marinerichter Filbinger im Zweiten Weltkrieg gefällt hatte, zu dessen Rücktritt als Ministerpräsident führte. Er gründete Spiegel TV und war 12 Jahre lang Chefredakteur des Spiegel, später Mitinhaber des Fernsehsenders N24 und Herausgeber der Welt. Er ist Autor zahlreicher Dokumentationen und Bücher. Sein Buch Der Baader-Meinhof-Komplex, erstmals 1985 erschienen, gilt als „Klassiker“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
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Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: „Mein Hauptwerk sind meine Bücher.“ Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.