Poesie des Unsichtbaren
In China ist Science-Fiction ein Mittel der Politik. Künstlerinnen verkleiden ihre Botschaften als Nachrichten aus der Zukunft. Sie stellen katastrophische Szenarien in phantastische Räume. Auf diesem voroffiziellen Resonanzboden finden Themen Darstellungsräume, die sonst keinen Rahmen haben.
Viral-Invasiv
Umweltzerstörung und Geschlechterfragen bleiben im chinesischen Alltag ausdruckslos. Avantgarde-Autorinnen überwinden die Sprachlosigkeit. Ihre Werke sind Repräsentanzen eines klandestinen Widerstands gegen Denkverbote.
Song Mingwei bezeichnete die chinesische Science-Fiction einst als „Poesie des Unsichtbaren”. Ihre Renaissance im 21. Jahrhundert trägt den Namen New Wave.
In China zählen staatliche Übernahmen subkultureller Emanationen zu den strukturelementarsten Überwachungsmaßnahmen. Man kauft die Garagenkunst auf. Der Staat verschafft sich Geltung, indem er Werke des Undergrounds im Krieg-der-Sterne-Format produzieren und verbreiten lässt.
Marktwirtschaftliches Kraftwerk
„Als der Kalte Krieg endete, wurde die Welt demokratischer. Doch anstatt China unter Druck zu setzen sich zu ändern, beschlossen die meisten Demokratien die Vorteile des marktwirtschaftlichen Kraftwerks China zu nutzen.“ Wu’er Kaixi, Quelle
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„China nutzt seine zivilen Fischereikräfte ... als verlängerten Arm der Marine und militarisiert (so) ... die Ozeane.“ Janka Oertel, „Ende der China-Illusion. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen“
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China ging einen anderen Weg als Russland. Es borgte sich die Instrumente des technischen Fortschritts aus westlicher Produktion, ohne Konzessionen zu machen. Es bewahrte sich seinen Autoritarismus im Zuge einer Modernisierung. Davon berichtet Ai Weiwei in seinem „Manifest ohne Grenzen“.
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Zwei Punkte bestimmen die chinesische Staatsdoktrin maßgeblich: das Verhältnis zum einzigen Konkurrenten, der China militärisch gefährlich werden kann, und die Auswertungen des Kollapses der Sowjetunion. In ihrer Analyse überliefert Janka Oertel eine Pekinger Einschätzung nach der „die Kommunistische Partei der Sowjetunion die Macht verlor, weil niemand Manns genug war, für ihren Erhalt zu kämpfen“.
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Nach 157 Jahre als britische Kronkolonie fiel Hongkong 1997 zurück an China. Deng Xiaopings Versprechen „Ein Land, zwei Systeme“ war sofort nichts mehr wert. Die Wettbewerbshochburg Hongkong sollte zwar ihre Totalisatoren nicht verlieren, aber trotzdem nach Pekinger Prinzipien funktionieren.
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„Wenn man etwas erfolgreich umgestalten will, muss man so weit gehen, dass die (Nachfolger:innen) nicht mehr umkehren können.“ Deng Xiaoping
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„Noch vor wenigen Jahren … waren wir froh, wenn wir ein Fahrrad besaßen. Jetzt sitzen wir in Privatjets. Von dort hierher in weniger als einem Leben - das ist unbegreiflich.“ Desmond Shum über das chinesische Wirtschaftswunder
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China ist ein Pol, zu dem sich andere verhalten müssen. Bei einer Präsentation seines Buches „Wir Herrenmenschen“ sagte einst „Spiegel“-Afrikakorrespondent Bartholomäus Grill: Die chinesische Präsenz in Afrika habe in zwanzig Jahren mehr bewirkt als sechzig Jahre europäische Entwicklungshilfe bewirkten.
Twimyo Bandae Dollyo Chagi, Mitte der 1980er Jahre auf dem Gelände der Göttinger Sportuni. Fotografiert von Mara Neusel © Jamal Tuschick
Der stille Prinz
Die Gepflogenheiten der roten Mandarine und ihrer Trabanten basieren auf Verflechtung. Man agiert in einem System persönlicher Beziehungen, die sich auf allen Hierarchiestufen gleich gestalten. Die historischen Wurzeln und Modalitäten des Nepotismus lassen sich nicht umgehen. Der Austausch gefüllter Briefumschläge entspricht einem Standardverfahren.
Gleichzeitig vollstreckt die bis in die Haarspitzen verfilzte Regierung auf der Ebene ihrer Gerichte Todesurteile, die mit Korruption begründet werden.
Solche Feinheiten lernte ich von William Sungs Großneffen Bo.
Rückblende
Als ich William Sung zum ersten Mal traf, war er bereits über neunzig. Er amtierte als Doyen einer Kampfkunstlinie, zu der ich mich jetzt nicht äußern will. Obwohl er so lebhaft wirkte wie eine mumifizierte Fliege und auch nicht mehr aus dem Bett kam, verblüffte er mich mit Skizzen von überraschenden Bewegungsabläufen, die er zittrig in die Luft zeichnete. Sung erwartete sein Ende in einem Krankenhausbett mit rostigem Gitter. Offensichtlich war er guter Dinge. Ihm war es beschieden im Dorf seiner Herkunft zu sterben.
Die Leute im Haus waren aber keine Angehörigen. Sie behandelten Sung respektvoll. Langlebigkeit stellt in China einen besonderen Wert dar.
Longevity ist das Maß aller Dinge. Man dehnt die persönliche Spanne. Darüber hinaus überlebt man in seinen Nachkommen. Deshalb zählt für die greise Avantgarde „Blutsverwandtschaft mehr als Ideologie“, Quelle.
„Ihr Vermächtnis (erfüllt) sich nur dann, wenn die nächste Führungsgeneration aus ihren eigenen Kindern besteht“. Quelle
Bo Sung war der amtierende Lineage-Holder. Er bewahrte das Erbe seines famosen Ahnen in musealer Manier. Ich hielt alles, einschließlich der Patina, für Tarnung. Bo gab den stillen Prinzen. Zu dieser Spielfigur des Gong-fu an anderer Stelle mehr. Eben bemerkte ich eine interessante Koinzidenz zwischen der chinesischen Kampfkunst und dem kaiserlichen Musiktheater in Pekinger Spielarten.
Bos geschäftliche Aktivitäten erstreckten sich auf die wichtigste Logistikdrehschreibe - den Beijing Capital International Airport. Der Chef des Flughafens, Li Peiying, wurde 2006 festgenommen und 2009 wegen Korruption hingerichtet.
Die Ungleichzeitigkeit zwischen traditionellen Lebensentwürfen und dem gelebten Futurismus der Wirtschaftskriegerinnenkaste, die unter der Führung von Xi Jinping zum Großen Sprung 2.0 ansetzte, schuf nicht nur schroffe Demarkationslinien zwischen Arm und Reich. Über die Kaskaden dieses Gefälles schoss eine Supernova chinesischer Extravaganz, die in ihrer grandiosen Auffälligkeit einen klandestinen Charakter bewahrte.
Mit seiner Frau Chen Lu wohnte Bo über dem Pekinger Hotel Bulgari in einer Penthouse über dem Gästetrakt: neunhundert Quadratmeter plus Schwimmbad. Die Kontaktdaten: Building 2 Courtyard No. 8 Xinyuan South Road, Chaoyang District, Beijing 100027 +86 10 8555 8555.
In-vitro-Jetset
Bo und Chen Lu frequentieren exzessiv die Pekinger Spitzengastronomie. Es war das reine Schaulaufen. Die Status-Trümpfe wurden knallend ausgespielt. Bo bestellte ein Wolfsbarschfilet für fünfhundert Dollar, um es demonstrativ nicht anzurühren. Eine tausend Dollar teure, aus der Schwimmblase eines Fischs gewonnene Suppe ließ Chen Lu kalt werden. Sie fuhr einen Audi mit zwölf Zylindern (Audi Q7 V12 TDI quattro), der in China fünfmal mehr kostete als in Deutschland.
Das Paar zählte zum In-vitro-Jetset. Wartelisten umging es mit Geld. Der Vorgang vollzog sich in einer Sphäre, in der viel Geld erst einmal wenig bedeutet. Geld erfüllt nur die leichteste Zugangsvoraussetzung. Wichtiger sind Beziehungen.
Der Feldzug zum Kind
2013 dekretiere die chinesische Staatsführung eine Lockerung der Ein-Kind-Politik. Sofort begann ein neuer Wettbewerb. Die Reichen im Reich der roten Mandarine optimierten ihre Familienkernziele mit einer internationalen Strategie. Bo und Chen Lu engagierten einen texanischen Endokrinologen. Sie kauften eine Wohnung in Houston und freundeten sich mit der Familie der Koryphäe auf die kostspieligste Weise an. Den Feldzug zum Kind krönte der Erfolg. Bo und Chen Lu legten den Geburtstermin für einen Sohn so fest, dass der Ersehnte im gewünschten Sternzeichen zur Welt kam.
Anti-Aging-Exzesse
Die Neureichen in der Beletage des chinesischen Wirtschaftswunders lieferten sich transkontinental ausufernde Verschwendungsschlachten. Sie konkurrierten in Arenen wahnsinniger Ausgaben. In diesem Überbietungswettbewerb musste alles gigantische Dimensionen annehmen: Wetteinsätze, Zechen, Kaufräusche, Anti-Aging-Exzesse … man jettete in die Schweiz, um sich da ein Elixier injizieren zu lassen.
Geschäft und Familie sind eng verwoben. Bo und Chen Lu agierten in einem Netzwerk, das mit der Regierungsspitze verbunden war. Mit Angehörigen der Nomenklatura absolvierten sie die Grand Tour durch Europa. Sie klapperten Schlösser und Burgen ab.