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2023-11-16 13:39:23, Jamal

An Enemy We Created

„Die Bush-Regierung beging einen großen Fehler, indem sie die Taliban und al-Qaida in einen Topf warf.“

Die Taliban strebten eine strikt islamische Staatlichkeit in Afghanistan an.

„Sie hatten mit den Terroranschlägen in den USA nichts zu tun … Ihre Ambition war lokal, sie wollten ihr Land regieren.“

Al-Qaida bezeichnete einen Zusammenschluss zumal arabischer Fundamentalisten mit weltweiten Zielen. Nach dem Einmarsch der Amerikaner:innen setzten sich die expatriierten Kombattanten zügig ab, so dass es in Afghanistan kaum noch al-Qaida-Akteure gab, als sich US-Spezialkräfte daran machten, die Hintermänner und Drahtzieher von 9/11 auszuheben. Einheimische denunzierten unliebsame Nachbarn. Der amerikanischen Antiterror-Erfolgsquote dienten auch Leute, die im Sinne der Anklage nicht schuldig waren.

Das erklärt Åsne Seierstad in dem packenden Faktenthriller „Land der vielen Wahrheiten“. Die Autorin bezieht sich zumal auf An Enemy We Created: The Myth of the Taliban-Al Qaeda Merger in Afghanistan von Alex Strick van Linschoten und Felix Kuehn. Im Weiteren verschränkt Seierstad die Lebensläufe von drei außergewöhnlich energischen Persönlichkeiten, die in den Jahren der amerikanischen Präsenz in Afghanistan ihre Hoffnungen und Erwartungen auf Ziele in der Zukunft richteten. Doch zuerst skizziert sie den historischen Unterbau des afghanischen Status quo zu Zeiten der vollendeten Taliban-Herrschaft.

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Royales Modernitätsideal

Von jeher werden in Afghanistan Interessen in robusten Aushandlungsprozessen abgeglichen. Von innen und von außen wirken Kräfte gegen eine Einheitlichkeit nach nationalstaatlichen Spielregeln. In den 1960er Jahren dekretierte König Mohammed Zahir Schah eine Reformation der Gesellschaft. Er ließ Gymnasien gründen. Die Berufstätigkeit von Frauen gehörte zum royalen Modernitätsideal. In Behörden herrschte Burkaverbot. Großstädterinnen nahmen unverschleiert am öffentlichen Leben beteiligt. Das Königspaar (Mohammed Zahir Schah war mit Humaira Begum Schah verheiratet) verkörperte die neue Bürgerlichkeit.   

Åsne Seierstad, „Land der vielen Wahrheiten“, erzählendes Sachbuch, aus dem Norwegischen von Frank Zuber und Franziska Hüther, Kein & Aber, 26,- 

Seierstad spricht von der „Blase“ Kabul. Die Stadt erhielt ihren Namen nach einem Fluss und ihre Bedeutung von einem Pass mit Verbindungscharakter. Sie steht auf dem Sockel einer antiken Gründung. In Kabul stellen sunnitische Tadschiken die Bevölkerungsmehrheit. Ihre Organisationsform ist familiär, nicht tribalistisch.

In der Achtundsechziger-Ära war Kabul ein Hotspot westlicher Vergnügungen. „Pakistaner machten Wochenendtrip nach Kabul, um Whisky zu trinken, Scheichs kamen aus der Golfregion, um Diskotheken zu besuchen.“  

Anfang der 1970er Jahren verlor das afghanische Establishment jede politische Repräsentanz. 1973 kam es zum Königssturz. Der Monarch und seine Gattin kurten gerade in Italien, das machte die Sache der Putschisten einfacher. Mohammad Daoud Khan rief die Republik aus. Er stützte sich auf eine kommunistische Partei und setzte auf die Sowjetunion als stärksten Verbündeten. Er und seine Nachfolger wurden von Konservativen im eigenen Land bekämpft. Das war nicht zuletzt ein Bauernkrieg gegen den städtischen Fortschritt. In diesem Konflikt zersplitterten alle Perspektiven des urbanen Mittelstandes. Bald war kein ziviles Leben mehr möglich. Wer nicht in einer militarisierten Umgebung leben wollte, fand sich auf der Flucht wieder.

*

Seit den kolonialen Expeditionen des neunzehnten Jahrhunderts ist Afghanistan das Massengrab der Großmächte. Die Sowjets wollten es gescheiter anfangen als die Engländer. Sie nahmen Einfluss auf Parteien, die aber auch nur zeitgenössische Formate für den Interessenbetrieb der Stämme und Ethnien hervorbrachten. Alter Wein in neuen Schläuchen - die Paschtunen hatten ihre eigene kommunistische Partei. Eine Weile regierten Maoisten mit. 

„Mit Daoud Khan kam die Angst“, heißt es. Dem nachbarschaftlichen Gefüge gingen die Vertrauensverhältnisse aus. Die Zentralisierung der Wirtschaft, ihre staatliche Lenkung, erzeugte Mangel und Uniformität. Lebensmittel wurden zugeteilt, plötzlich hatten alle die gleichen Schuhe an. Die Leute lernten Schlangestehen, bis zu drei Tage von früh bis spät wegen einer Sache, die anders nicht zu kriegen war. Der Staat warb um seine jüngsten Angehörigen. In roten Hemden sollten sie paradieren.

Kommunistische Folklore. Die Familien wehrten sich mit dem Koran. Der Islam lieferte eine Abwehrdoktrin zur Verteidigung überkommener Werte. Er erteilte dem Kommunismus eine Absage nach der anderen. Das freute die Amerikaner.

Demonstrative Religiosität war zunächst eine stille Widerstandsform. Der Koran bot eine nicht so einfach zu kriminalisierende Formulierungshilfe. Die Herrschenden ließen sich mit dem Koran kritisieren, ohne dass Gefängnis gleich das nächste gewesen wäre.

1979 marschierte die Rote Armee in Afghanistan ein, eine brüderliche Beistandsmaßnahme, wenn man so wollte wie der Kreml.

Muhammad Taraki regierte. Aber nicht mehr lange. Die von Taraki eingeladene Sowjetunion richtete ein Marionettenkabinett ein. Sie führte den Krieg einer Besatzungsmacht gegen alle möglichen Gruppen im Widerstand. Die afghanische Armee rekrutierte von der Schulbank weg. Auf eine militärische Ausbildung wurde weitgehend verzichtet.

„Sie gehen als Schüler und kommen als Leichen zurück“, sagte der Volksmund. Viele entzogen sich dem staatlichen Wehrdienst nach Pakistan. Das Procedere der Verweigerung hatte System. Es gab die Talibtour von Peschawar nach Islamabad und retour. Koranschüler (Talib) wurden in Kampfgebiete geschleust. Als Mudschahid kämpften sie für ein Butterbrot namens Gotteslohn, rustikal-idealistisch in einer Karl May-Landschaft. 

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Zwanzig Jahre nach ihrem internationalen Bestseller „Der Buchhändler aus Kabul“ kehrt Åsne Seierstad nach Afghanistan zurück. Sie erzählt die Geschichten derer, die vor den Taliban geflohen sind, und derer, die zurückblieben. Von Jamila, die sich Schul- und Universitätsbesuch erstreitet und als gläubige Muslima für die Rechte der Frauen einsetzt. Von Bashir, der von zu Hause wegläuft, um sich den Taliban anzuschließen und im Heiligen Krieg zu kämpfen. Und von Ariana, die geboren wurde, als westliche Truppen in das Land einmarschierten, nach der Machtübernahme der Taliban zwangsverheiratet wurde und die Hoffnung nicht aufgibt, mit ihrem Jurastudium die Gesellschaft zu verändern. Das Buch ist ein intimes Porträt dreier Menschen, die unterschiedliche Wege gehen, ihrer Familien, Freunde und Bekannten - und die Geschichte eines Landes im Krieg.  

Zur Autorin

Åsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, arbeitete als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin für verschiedene internationale Zeitungen und ist Autorin mehrerer Sachbücher. Sowohl als Journalistin als auch für ihre weltweiten Bestseller Der Buchhändler aus Kabul (2002) und Einer von uns (2016) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Das 2017 ebenfalls bei Kein & Aber erschienene Werk Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad war Norwegens Sachbuch des Jahres. Åsne Seierstad lebt in Oslo.