Der geborene Krieger
„Die Märtyrer waren in Baschirs Geschichten präsenter als die Lebenden. Sie kehrten in den Heldensagen wieder. Manchmal sprach Baschir über sie, als weilten sie noch unter ihnen.“
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„Es gab nur zwei Regeln. Der Gewinner nimmt alles. Und nichts währt ewig.“
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“The Arabs had marked their tents out in white so that they would stand out. He asked them why. ‘We want them to bomb as. We want to die.’” Alex Strick van Linschoten, Felix Kuehn, “Enemy We Created: The Myth of the Taliban-Al Qaeda Merger in Afghanistan”
An Enemy We Created
„Die Bush-Regierung beging einen großen Fehler, indem sie die Taliban und al-Qaida in einen Topf warf.“
Die Taliban strebten eine strikt islamische Staatlichkeit in Afghanistan an.
„Sie hatten mit den Terroranschlägen in den USA nichts zu tun … Ihre Ambition war lokal, sie wollten ihr Land regieren.“
Al-Qaida bezeichnete einen Zusammenschluss zumal arabischer Fundamentalisten mit weltweiten Zielen. Nach dem Einmarsch der Amerikaner:innen setzten sich die expatriierten Kombattanten zügig ab, so dass es in Afghanistan kaum noch al-Qaida-Akteure gab, als sich US-Spezialkräfte daran machten, die Hintermänner und Drahtzieher von 9/11 auszuheben. Einheimische denunzierten unliebsame Nachbarn. Der amerikanischen Antiterror-Erfolgsquote dienten auch Leute, die im Sinne der Anklage nicht schuldig waren.
Das erklärt Åsne Seierstad in dem packenden Faktenthriller „Land der vielen Wahrheiten“. Die Autorin bezieht sich zumal auf An Enemy We Created: The Myth of the Taliban-Al Qaeda Merger in Afghanistan von Alex Strick van Linschoten und Felix Kuehn. Im Weiteren verschränkt Seierstad die Lebensläufe von drei außergewöhnlich energischen Persönlichkeiten, die in den Jahren der amerikanischen Präsenz in Afghanistan ihre Hoffnungen und Erwartungen auf Ziele in der Zukunft richteten. Doch zuerst skizziert sie den historischen Unterbau des afghanischen Status quo zu Zeiten der vollendeten Taliban-Herrschaft.
Åsne Seierstad, „Land der vielen Wahrheiten“, erzählendes Sachbuch, aus dem Norwegischen von Frank Zuber und Franziska Hüther, Kein & Aber, 26,-
Im Präsens der geschilderten Lebensläufe
Seierstad erzählt von Jamila Afghani. Die 1976 in Kabul geborene Tochter eines Selfmade-Unternehmers überragt ihre Generationskohorte nicht allein als Überwinderin eines schweren körperlichen Handicaps. In einem frauenbildungsfeindlichen Klima überwindet sie einen Himalaya der Abwehr und des Ressentiments. Ihr gelingt das Kunststück, sich akademisch zu qualifizieren. Kaum erwachsen gründet sie die Menschrechtsorganisation Noor Educational and Capacity Development Organization (NECDO). Außerdem macht sie als jüngste Instruktorin von Care International von sich reden. Sie ist Vorstandsmitglied des Dachverbandes Afghan Women‘s Network (AWN) und Direktorin von Medica Afghanistan. 2022 erhält sie den Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit. Die Machtübernahme der Taliban treibt sie ins norwegische Exil. In Oslo erlebt Jamila ihre Deklassierung im Rahmen eines Migrationsmanagement, dass die besonderen Gaben der Geflüchteten nicht berücksichtigt.
„Frieden darf nicht mit Frauenrechten erkauft werden“, sagt Jamila Afghani. Quelle
Seierstad beschreibt eine absurde Begegnung der Aktivistin mit einer Taliban-Delegation 2019. Die neuen Machthaber gerierten sich moderat und aufgeschlossen. Sie führten den Westen hinters Licht.
Von der Jeans zurück zur Burka in einem historischen Rutsch
Zu Jamilas jüngeren Schicksalsgenossinnen zählt Ariana, Jahrgang 2001. Als Tochter eines Offiziers wächst sie einigermaßen ungezwungen in der Liberalisierungsphase vor dem Regimewechsel großstädtisch auf. Die repressive Frauenpolitik der Taliban trifft sie kurz vor Ende ihres Jurastudiums unerwartet. Die von ihren Eltern erbrachten Anpassungsleistungen an die historische Volte kollidieren mit Arianas freiem Weltbild. Plötzlich soll sie - im Stil einer mittelalterlichen Ordnung - verheiratet werden.
Gleichzeitig offenbart sich ein Koordinationsdesaster im Kontext der Bildungsleitlinien. Noorullah Munir, der nominell zuständige Minister, plant eine vollständige Öffnung der Schulen, vermutlich auch deshalb, um internationale Alimentationsquellen nicht versiegen zu lassen. Er wirft einen Handschuh in den Ring der Entscheider:
„Sollte jemand auf Basis der Scharia dagegen argumentieren, nehme ich es gern mit ihm auf.“
Munir und anderen Pragmatikern geht um die Außendarstellung ihrer Regierung. Sie wollen das Emirat nicht innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft isolieren. Die Hardliner finden es selbstverständlich, Mädchen vom Schulbesuch auszuschließen.
Das letzte Wort behält der Emir. Er folgt den Ansichten „der mächtigen Minderheit, einem kleinen Kreis ultrakonservativer Imame“. Die Hardliner predigen:
„Die allerbeste Burka … (ist) es, zu Hause zu bleiben.“
Bei Nacht und Nebel
Viel Raum gibt Seierstad dem Lebensweg des Mudschahedin-Kommandanten Baschir, Jahrgang 1987. Mudschahid kommt von Dschihad. Baschir, jüngster Sohn eines ermordeten Mullahs, brennt von klein auf für den Kampf gegen die Ungläubigen. Kaum halbwüchsig, unterstellt er sich Siradschuddin Haqqani und Dadullah Akhund. Baschirs dschihadistisches Debüt ist ein halbwegs fehlgeschlagener Raketenangriff auf die verfassungsgebende Versammlung - der Loja Dschirga - Anfang der Nullerjahre. Seinen Gefährten erscheint er „kühn, scharfsinnig, selbstständig“. Als blutjunger Kommandant misst er sich mit Baitullah Mehsud. Unter anderem betreut er angehende Selbstmordattentäter.
Am 7. Juni 2003 sterben erstmals deutsche Soldaten in Afghanistan. Sie werden Opfer eines Selbstmordattentats. Unter den Toten ist Carsten Kühlmorgen, 1990 letzter DDR-Meister über zweihundert Meter Delfin.
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Michael Roes erzählt von einem „Besuch im Hauptquartier der Internationalen Schutztruppen, einer Stadt in der Stadt … mit Biergärten, Cafés und Fitnessstudios“. Roes kennt das alles aus „ethnografisch“ frappierend genauen Inszenierungen: den Cowboygang, das Abklatschen, die Ray-Ban-Brillen. Die GIs verhalten sich so, wie man es von ihnen erwartet. Der Autor bemerkt:
„Auf beunruhigende Weise fühle ich mich unter diesen Rednecks sogar wohl.“
Siehe Michael Roes, „Melancholie des Reisens“.
Seierstad schildert den Abzug der Amerikaner:innen im August 2021. Die Soldat:innen verlassen Kabul in einer Nacht- und Nebelaktion.
„Pünktlich zwanzig Minuten nach Abheben des letzten Flugzeugs schaltete sich der Strom wie vorprogrammiert ab. Über den Stützpunkt, der mit Schwimmbad, Kino und Burger King die Dimensionen einer Kleinstadt hatte, senkte sich totale Finsternis.“
Die Taliban übernehmen die Kapitale. Baschir reiht sich in den Triumphzug ein. Hinter ihm liegen zwanzig Jahre Krieg. Sein Stolz und sein Ruhm verbinden sich mit enormer Zerstörungskraft. Plötzlich ist Baschirs Terrorkompetenz nicht mehr gefragt. Man braucht ihn als Ordnungshüter und Statthalter.
In Kabul regeln Dschihadisten den Verkehr. Siradschuddin Haqqani, Baschirs Mentor und „Kopf hinter der Militärstrategie der Taliban im östlichen Afghanistan“, avanciert zum Innenminister und sichert so seine Position als einer der Mächtigen im Land; obwohl er auf der FBI-Most-Wanted-Liste steht und ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt ist.
Aus der Ankündigung
Zwanzig Jahre nach ihrem internationalen Bestseller „Der Buchhändler aus Kabul“ kehrt Åsne Seierstad nach Afghanistan zurück. Sie erzählt die Geschichten derer, die vor den Taliban geflohen sind, und derer, die zurückblieben. Von Jamila, die sich Schul- und Universitätsbesuch erstreitet und als gläubige Muslima für die Rechte der Frauen einsetzt. Von Bashir, der von zu Hause wegläuft, um sich den Taliban anzuschließen und im Heiligen Krieg zu kämpfen. Und von Ariana, die geboren wurde, als westliche Truppen in das Land einmarschierten, nach der Machtübernahme der Taliban zwangsverheiratet wurde und die Hoffnung nicht aufgibt, mit ihrem Jurastudium die Gesellschaft zu verändern. Das Buch ist ein intimes Porträt dreier Menschen, die unterschiedliche Wege gehen, ihrer Familien, Freunde und Bekannten - und die Geschichte eines Landes im Krieg.
Zur Autorin
Åsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, arbeitete als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin für verschiedene internationale Zeitungen und ist Autorin mehrerer Sachbücher. Sowohl als Journalistin als auch für ihre weltweiten Bestseller Der Buchhändler aus Kabul (2002) und Einer von uns (2016) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Das 2017 ebenfalls bei Kein & Aber erschienene Werk Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad war Norwegens Sachbuch des Jahres. Åsne Seierstad lebt in Oslo.