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2023-11-17 08:11:18, Jamal

Der geborene Krieger

„Die Märtyrer waren in Baschirs Geschichten präsenter als die Lebenden. Sie kehrten in den Heldensagen wieder. Manchmal sprach Baschir über sie, als weilten sie noch unter ihnen.“

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„Es gab nur zwei Regeln. Der Gewinner nimmt alles. Und nichts währt ewig.“

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“The Arabs had marked their tents out in white so that they would stand out. He asked them why. ‘We want them to bomb as. We want to die.’” Alex Strick van Linschoten, Felix Kuehn, “Enemy We Created: The Myth of the Taliban-Al Qaeda Merger in Afghanistan”

An Enemy We Created

„Die Bush-Regierung beging einen großen Fehler, indem sie die Taliban und al-Qaida in einen Topf warf.“

Die Taliban strebten eine strikt islamische Staatlichkeit in Afghanistan an.

„Sie hatten mit den Terroranschlägen in den USA nichts zu tun … Ihre Ambition war lokal, sie wollten ihr Land regieren.“

Al-Qaida bezeichnete einen Zusammenschluss zumal arabischer Fundamentalisten mit weltweiten Zielen. Nach dem Einmarsch der Amerikaner:innen setzten sich die expatriierten Kombattanten zügig ab, so dass es in Afghanistan kaum noch al-Qaida-Akteure gab, als sich US-Spezialkräfte daran machten, die Hintermänner und Drahtzieher von 9/11 auszuheben. Einheimische denunzierten unliebsame Nachbarn. Der amerikanischen Antiterror-Erfolgsquote dienten auch Leute, die im Sinne der Anklage nicht schuldig waren.

Das erklärt Åsne Seierstad in dem packenden Faktenthriller „Land der vielen Wahrheiten“. Die Autorin bezieht sich zumal auf An Enemy We Created: The Myth of the Taliban-Al Qaeda Merger in Afghanistan von Alex Strick van Linschoten und Felix Kuehn. Im Weiteren verschränkt Seierstad die Lebensläufe von drei außergewöhnlich energischen Persönlichkeiten, die in den Jahren der amerikanischen Präsenz in Afghanistan ihre Hoffnungen und Erwartungen auf Ziele in der Zukunft richteten. Doch zuerst skizziert sie den historischen Unterbau des afghanischen Status quo zu Zeiten der vollendeten Taliban-Herrschaft.

Royales Modernitätsideal

Von jeher werden in Afghanistan Interessen in robusten Aushandlungsprozessen abgeglichen. Von innen und von außen wirken Kräfte gegen eine Einheitlichkeit nach nationalstaatlichen Spielregeln. In den 1960er Jahren dekretierte König Mohammed Zahir Schah eine Reformation der Gesellschaft. Er ließ Gymnasien gründen. Die Berufstätigkeit von Frauen gehörte zum royalen Modernitätsideal. In Behörden herrschte Burkaverbot. Großstädterinnen nahmen unverschleiert am öffentlichen Leben beteiligt. Das Königspaar (Mohammed Zahir Schah war mit Humaira Begum Schah verheiratet) verkörperte die neue Bürgerlichkeit.   

Åsne Seierstad, „Land der vielen Wahrheiten“, erzählendes Sachbuch, aus dem Norwegischen von Frank Zuber und Franziska Hüther, Kein & Aber, 26,- 

Seierstad spricht von der „Blase“ Kabul. Die Stadt erhielt ihren Namen nach einem Fluss und ihre Bedeutung von einem Pass mit Verbindungscharakter. Sie steht auf dem Sockel einer antiken Gründung. In Kabul stellen sunnitische Tadschiken die Bevölkerungsmehrheit. Ihre Organisationsform ist familiär, nicht tribalistisch.

In der Achtundsechziger-Ära war Kabul ein Hotspot westlicher Vergnügungen. „Pakistaner machten Wochenendtrip nach Kabul, um Whisky zu trinken, Scheichs kamen aus der Golfregion, um Diskotheken zu besuchen.“  

Anfang der 1970er Jahren verlor das afghanische Establishment jede politische Repräsentanz. 1973 kam es zum Königssturz. Der Monarch und seine Gattin kurten gerade in Italien, das machte die Sache der Putschisten einfacher. Mohammad Daoud Khan rief die Republik aus. Er stützte sich auf eine kommunistische Partei und setzte auf die Sowjetunion als stärksten Verbündeten. Er und seine Nachfolger wurden von Konservativen im eigenen Land bekämpft. Das war nicht zuletzt ein Bauernkrieg gegen den städtischen Fortschritt. In diesem Konflikt zersplitterten alle Perspektiven des urbanen Mittelstandes. Bald war kein ziviles Leben mehr möglich. Wer nicht in einer militarisierten Umgebung leben wollte, fand sich auf der Flucht wieder.

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Seit den kolonialen Expeditionen des neunzehnten Jahrhunderts ist Afghanistan das Massengrab der Großmächte. Die Sowjets wollten es gescheiter anfangen als die Engländer. Sie nahmen Einfluss auf Parteien, die aber auch nur zeitgenössische Formate für den Interessenbetrieb der Stämme und Ethnien hervorbrachten. Alter Wein in neuen Schläuchen - die Paschtunen hatten ihre eigene kommunistische Partei. Eine Weile regierten Maoisten mit. 

„Mit Daoud Khan kam die Angst“, heißt es. Dem nachbarschaftlichen Gefüge gingen die Vertrauensverhältnisse aus. Die Zentralisierung der Wirtschaft, ihre staatliche Lenkung, erzeugte Mangel und Uniformität. Lebensmittel wurden zugeteilt, plötzlich hatten alle die gleichen Schuhe an. Die Leute lernten Schlangestehen, bis zu drei Tage von früh bis spät wegen einer Sache, die anders nicht zu kriegen war. Der Staat warb um seine jüngsten Angehörigen. In roten Hemden sollten sie paradieren.

Kommunistische Folklore. Die Familien wehrten sich mit dem Koran. Der Islam lieferte eine Abwehrdoktrin zur Verteidigung überkommener Werte. Er erteilte dem Kommunismus eine Absage nach der anderen. Das freute die Amerikaner.

Demonstrative Religiosität war zunächst eine stille Widerstandsform. Der Koran bot eine nicht so einfach zu kriminalisierende Formulierungshilfe. Die Herrschenden ließen sich mit dem Koran kritisieren, ohne dass Gefängnis gleich das nächste gewesen wäre.

1979 marschierte die Rote Armee in Afghanistan ein, eine brüderliche Beistandsmaßnahme, wenn man so wollte wie der Kreml.

Muhammad Taraki regierte. Aber nicht mehr lange. Die von Taraki eingeladene Sowjetunion richtete ein Marionettenkabinett ein. Sie führte den Krieg einer Besatzungsmacht gegen alle möglichen Gruppen im Widerstand. Die afghanische Armee rekrutierte von der Schulbank weg. Auf eine militärische Ausbildung wurde weitgehend verzichtet.

„Sie gehen als Schüler und kommen als Leichen zurück“, sagte der Volksmund. Viele entzogen sich dem staatlichen Wehrdienst nach Pakistan. Das Procedere der Verweigerung hatte System. Es gab die Talibtour von Peschawar nach Islamabad und retour. Koranschüler (Talib) wurden in Kampfgebiete geschleust. Als Mudschahid kämpften sie für ein Butterbrot namens Gotteslohn, rustikal-idealistisch in einer Karl May-Landschaft.

Im Präsens der geschilderten Lebensläufe

Seierstad erzählt von Jamila Afghani. Die 1976 in Kabul geborene Tochter eines Selfmade-Unternehmers überragt ihre Generationskohorte nicht allein als Überwinderin eines schweren körperlichen Handicaps. In einem frauenbildungsfeindlichen Klima überwindet sie einen Himalaya der Abwehr und des Ressentiments. Ihr gelingt das Kunststück, sich akademisch zu qualifizieren. Kaum erwachsen gründet sie die Menschrechtsorganisation Noor Educational and Capacity Development Organization (NECDO). Außerdem macht sie als jüngste Instruktorin von Care International von sich reden. Sie ist Vorstandsmitglied des Dachverbandes Afghan Women‘s Network (AWN) und Direktorin von Medica Afghanistan. 2022 erhält sie den Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit. Die Machtübernahme der Taliban treibt sie ins norwegische Exil. In Oslo erlebt Jamila ihre Deklassierung im Rahmen eines Migrationsmanagement, dass die besonderen Gaben der Geflüchteten nicht berücksichtigt.  

„Frieden darf nicht mit Frauenrechten erkauft werden“, sagt Jamila Afghani. Quelle

Seierstad beschreibt eine absurde Begegnung der Aktivistin mit einer Taliban-Delegation 2019. Die neuen Machthaber gerierten sich moderat und aufgeschlossen. Sie führten den Westen hinters Licht.  

Von der Jeans zurück zur Burka in einem historischen Rutsch

Zu Jamilas jüngeren Schicksalsgenossinnen zählt Ariana, Jahrgang 2001. Als Tochter eines Offiziers wächst sie einigermaßen ungezwungen in der Liberalisierungsphase vor dem Regimewechsel großstädtisch auf. Die repressive Frauenpolitik der Taliban trifft sie kurz vor Ende ihres Jurastudiums unerwartet. Die von ihren Eltern erbrachten Anpassungsleistungen an die historische Volte kollidieren mit Arianas freiem Weltbild. Plötzlich soll sie - im Stil einer mittelalterlichen Ordnung - verheiratet werden.

Gleichzeitig offenbart sich ein Koordinationsdesaster im Kontext der Bildungsleitlinien. Noorullah Munir, der nominell zuständige Minister, plant eine vollständige Öffnung der Schulen, vermutlich auch deshalb, um internationale Alimentationsquellen nicht versiegen zu lassen. Er wirft einen Handschuh in den Ring der Entscheider:

„Sollte jemand auf Basis der Scharia dagegen argumentieren, nehme ich es gern mit ihm auf.“

Munir und anderen Pragmatikern geht um die Außendarstellung ihrer Regierung. Sie wollen das Emirat nicht innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft isolieren. Die Hardliner finden es selbstverständlich, Mädchen vom Schulbesuch auszuschließen.

Das letzte Wort behält der Emir. Er folgt den Ansichten „der mächtigen Minderheit, einem kleinen Kreis ultrakonservativer Imame“. Die Hardliner predigen:

„Die allerbeste Burka … (ist) es, zu Hause zu bleiben.“

Bei Nacht und Nebel

Viel Raum gibt Seierstad dem Lebensweg des Mudschahedin-Kommandanten Baschir, Jahrgang 1987. Mudschahid kommt von Dschihad. Baschir, jüngster Sohn eines ermordeten Mullahs, brennt von klein auf für den Kampf gegen die Ungläubigen. Kaum halbwüchsig, unterstellt er sich Siradschuddin Haqqani und Dadullah Akhund. Baschirs dschihadistisches Debüt ist ein halbwegs fehlgeschlagener Raketenangriff auf die verfassungsgebende Versammlung - der Loja Dschirga - Anfang der Nullerjahre. Seinen Gefährten erscheint er „kühn, scharfsinnig, selbstständig“. Als blutjunger Kommandant misst er sich mit Baitullah Mehsud. Unter anderem betreut er angehende Selbstmordattentäter.

Am 7. Juni 2003 sterben erstmals deutsche Soldaten in Afghanistan. Sie werden Opfer eines Selbstmordattentats. Unter den Toten ist Carsten Kühlmorgen, 1990 letzter DDR-Meister über zweihundert Meter Delfin.

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Michael Roes erzählt von einem „Besuch im Hauptquartier der Internationalen Schutztruppen, einer Stadt in der Stadt … mit Biergärten, Cafés und Fitnessstudios“. Roes kennt das alles aus „ethnografisch“ frappierend genauen Inszenierungen: den Cowboygang, das Abklatschen, die Ray-Ban-Brillen. Die GIs verhalten sich so, wie man es von ihnen erwartet. Der Autor bemerkt:

„Auf beunruhigende Weise fühle ich mich unter diesen Rednecks sogar wohl.“

Siehe Michael Roes, „Melancholie des Reisens“.

Seierstad schildert den Abzug der Amerikaner:innen im August 2021. Die Soldat:innen verlassen Kabul in einer Nacht- und Nebelaktion.

„Pünktlich zwanzig Minuten nach Abheben des letzten Flugzeugs schaltete sich der Strom wie vorprogrammiert ab. Über den Stützpunkt, der mit Schwimmbad, Kino und Burger King die Dimensionen einer Kleinstadt hatte, senkte sich totale Finsternis.“

Die Taliban übernehmen die Kapitale. Baschir reiht sich in den Triumphzug ein. Hinter ihm liegen zwanzig Jahre Krieg. Sein Stolz und sein Ruhm verbinden sich mit enormer Zerstörungskraft. Plötzlich ist Baschirs Terrorkompetenz nicht mehr gefragt. Man braucht ihn als Ordnungshüter und Statthalter.

In Kabul regeln Dschihadisten den Verkehr. Siradschuddin Haqqani, Baschirs Mentor und „Kopf hinter der Militärstrategie der Taliban im östlichen Afghanistan“, avanciert zum Innenminister und sichert so seine Position als einer der Mächtigen im Land; obwohl er auf der FBI-Most-Wanted-Liste steht und ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt ist.

Aus der Ankündigung

Zwanzig Jahre nach ihrem internationalen Bestseller „Der Buchhändler aus Kabul“ kehrt Åsne Seierstad nach Afghanistan zurück. Sie erzählt die Geschichten derer, die vor den Taliban geflohen sind, und derer, die zurückblieben. Von Jamila, die sich Schul- und Universitätsbesuch erstreitet und als gläubige Muslima für die Rechte der Frauen einsetzt. Von Bashir, der von zu Hause wegläuft, um sich den Taliban anzuschließen und im Heiligen Krieg zu kämpfen. Und von Ariana, die geboren wurde, als westliche Truppen in das Land einmarschierten, nach der Machtübernahme der Taliban zwangsverheiratet wurde und die Hoffnung nicht aufgibt, mit ihrem Jurastudium die Gesellschaft zu verändern. Das Buch ist ein intimes Porträt dreier Menschen, die unterschiedliche Wege gehen, ihrer Familien, Freunde und Bekannten - und die Geschichte eines Landes im Krieg.  

Zur Autorin

Åsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, arbeitete als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin für verschiedene internationale Zeitungen und ist Autorin mehrerer Sachbücher. Sowohl als Journalistin als auch für ihre weltweiten Bestseller Der Buchhändler aus Kabul (2002) und Einer von uns (2016) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Das 2017 ebenfalls bei Kein & Aber erschienene Werk Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad war Norwegens Sachbuch des Jahres. Åsne Seierstad lebt in Oslo.