Untätiger Gegner
„Die Eltern sterben früh, und begreiflicherweise zeigen die Verwandten größte Eile, den … (Illegitimen) möglichst kostenlos von sich wegzuhalten; glücklicherweise ist die Kirche immer geneigt, einen begabten Knaben an sich zu ziehen. Mit neun Jahren wird der kleine Desiderius (in Wahrheit: ein Unerwünschter) in die Kapitelschule von Deventer geschickt.“ Stefan Zweig, „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“
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„Ich versuchte zu erfahren, ob Erasmus von Rotterdam bei jener Partei sei. Aber ein gewisser Kaufmann erwiderte mir: ‚Erasmus est homo pro se‘ (Erasmus steht immer für sich allein). Epistolae obscurorum virorum, 1515, zitiert nach Stefan Zweig
Bleiben wir einen Augenblick noch bei Zweigs Erasmusiade. Der Autor schildert die epochale Gestalt als geschickten Taktiker. Erasmus scheut Streit und revolutionäre Ruppigkeit. „Unnützen Widerstand“ vermeidet er. Lieber „erschleicht (er sich) seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen“.
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In seinem Buch über „Außenseiter“ spricht Hans Mayer über die „Epoche zwischen Erasmus und Shakespeare“.
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„Seine Werke … zeigen, dass … Eitelkeit u. Furchtsamkeit des Gelehrten mehr als der Mangel an religiöser Überzeugung ihn zuerst zu einem Beförderer der Reformation u. später zum unthätigen (Originalschreibweise) Gegner derselben machten, nachdem die Zeit vorüber war, wo man auf beiden Achseln Wasser tragen konnte.“ Herders Conversations-Lexikon, 1854, Quelle
Orthografische Nonchalance
Erasmus Desiderius/Gerrit Gerritszoon (ca. 1466 in Rotterdam - 1536 in Basel) wächst in Gouda auf. Als unehelicher Sohn eines Priesters und dessen Haushälterin entbehrt er die zunfttaugliche Ehrbarkeit in einem burgundischen Winkel des Heiligen Römischen Reichs. Die sozialen Aussichten des zukünftigen Fürstenerziehers sind erst einmal lausig.
Den Langobarden-Königsnamen Desiderius, eine Ableitung von desiderare - begehren, legt sich Erasmus später selbst zu. Seinen Vater ziert eine gute Handschrift. Roger Gerard zählt zu den weltläufigen Geistlichen. Der Verehrer des als Märtyrer heiliggesprochenen Erasmus von Antiochia blickt auf eine Karriere in Italien zurück. Im Auftrag des Abts von Monastero di San Benedetto (heute St. Benedikt), einem Kloster nahe Fabriano, kopierte er „zwei Schlüsseltexte des Christentums“, namentlich Augustinus‘ „Vom Gottesstaat“ und Thomas von Aquins „Summa theologica“.
Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-
Die Abtei steht auf dem „Apennin-Gipfel des Monte Fano“. 1276 wurde in Fabriano die erste Papiermühle auf europäischem Boden in Betrieb genommen. Zu Gerards Lebzeiten floriert die Papierindustrie. Langereis spricht von einem „hocheffizienten Recyclingverfahren“, bei dem Leinenlumpen und abgetakelte Segelfetzen in ihren „Rohstoff zurückverwandelt (werden)“. Sie beschreibt einen Hotspot der Renaissance-Tüchtigkeit. Klöstervorstände betreiben die Mühlen mit Pächter:innen. In den Skriptorien sowie an anderen kirchenstaatlichen Stellen tobt ein Kampf der restaurativen Pergamentfraktion gegen die neumodischen Freund:innen des Papiers.
Die Autorin belegt Gerards schriftstellerische Tätigkeit mit spät erschlossenen Quellen. Der gebürtige Rotterdamer versah seine Arbeit mit Herkunftshinweisen. Einmal bezeichnet er sich als „Germane aus der holländischen Provinz“. Seinen Taufnamen überliefert er in diversen Versionen. Die freihändige Schreibweise „zeugt von einer orthografischen (im 15. Jahrhundert verbreiteten) Nonchalance“.
Um die Deklassierung in Grenzen zu halten, tritt Erasmus (so wie sein Bruder Pieter) als Waise auf. Ein Onkel, Schulmeister von Beruf, wird zum Vormund bestellt. Die Brüder genießen eine höhere Schulbildung, zunächst in der Obhut des Oheims. Schließlich erhalten sie die Priesterweihe.
Langereis erzählt das Leben ihres Helden mit lauter burlesken Schwenks, Schlenkern und Perspektivwechseln. Ich fühle mich eingeladen, an eine andere Berühmtheit aus Gouda zu erinnern. Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Eurostars Erasmus entreißt Cornelis de Houtman (1565 - 1599) den Portugies:innen das ostindische Pfeffermonopol und macht Bantam auf Java zum ersten niederländischen Stützpunkt in Indonesien. Im Gefecht verliert er zwei Schiffe und fast alle Matrosen. Eine Bucht heißt seitdem „Friedhof der Holländer“. Nun besitzen die Niederländer ihren Platz an der Sonne. Sie übertragen das vaterländische Verwaltungsgefüge auf den Kolonialbetrieb. An die Spitze setzen sie Beamte aus Utrecht oder Texel. Denen soll der Sultan von Bantam berichten. An das Prozedere muss sich Seine Hoheit erst gewöhnen, Houtman lässt er jedenfalls noch wegen Amtsanmaßung und Majestätsbeleidigung die Kehle durchschneiden.
Niederländisch-Ostindien ist eine Geschäftsidee der Dutch East India Company. Ihr erster Gouverneur, ein Admiral der Brabant’schen Compagnie-Flotte, veranlasst den Bau eines befestigten Handelshauses (Fort Nassau) an der Mündung des Ciliwung (Tschiliwing) zwischen einer portugiesischen Festung und der Hafenstadt Jayakarta. Im Kampf gegen Spanien, Portugal und England müssen die Niederlande ständig ihren Stützpunkt verteidigen. Selbst als der Kaiser von Java und der König von Jayakarta gemeinsam aufstehen, um mit englischer Unterstützung die Niederländer außer Gefecht zu setzen, widersteht die Mannschaft der schon über die Wälle gewachsenen, alles Ältere einnehmende, eine Stadt in ihrer künftigen Gestalt andeutenden Siedlung.
Nassau ist die Keimzelle von Batavia (Jakarta). Brackwasser führende Kanäle durchziehen das Zentrum von Niederländisch-Ostindien. Die zur Verstärkung herangezogenen Handwerker sterben wie die Fliegen im Fieberwahn. Die Stadt ist zwar ungesund, liegt aber günstig. Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre. Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.
Zur Autorin
Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.