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2023-11-28 10:36:17, Jamal

Erschlichene Unabhängigkeit

Bleiben wir noch einen Augenblick bei Stefan Zweigs Erasmusiade „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“. Der Autor schildert die epochale Gestalt als geschickten Taktiker. Der als Gerrit Gerritszoon unehelich zur Welt gekommene Erasmus scheut Streit und revolutionäre Ruppigkeit. „Unnützen Widerstand“ vermeidet er. Lieber „erschleicht (er sich) seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen“.

Weltliche Spielräume

Ist es statthaft, Zweigs Anverwandlung einzuordnen als kongeniale Vorzeichnung der atmenden Biografie von Sandra Langereis? Zweig schildert seinen Helden als „übernationales“ Genie. Er assoziiert mit dem Weltmann die Heimatlosigkeit einer - nach den Margen der Erasmus-Epoche - unordentlichen Herkunft.

„Erasmus hat keine Heimat, kein richtiges Elternhaus, er ist gewissermaßen im luftleeren Raum geboren.“

Erasmus setzt seinen Taufnamen zwischen zwei angenommene, jedenfalls nicht ererbte Namen. Er verschmäht die Sprache seiner Ahnen und gibt Latein den Vorzug. 

Zweig spricht von einer planvollen „Verschattung“ der unehelichen, sprich delegitimierenden Abstammung. „Ärgerlich“ sei es gewesen, von einem Priester gezeugt worden zu sein. Der Autor unterstellt Erasmus die Geburtsnot eines unerwünschten Kindes. Erasmus dementiert sein Schicksal, indem er sich zum Desiderius erklärt. 1487 tritt er in den Augustinerorden ein, ein Jahr später legt er das Gelübde ab. Ohne besondere Frömmigkeit frönt er seinen künstlerischen Neigungen. 1492 weiht ihn der Bischof von Utrecht zum Priester.

Der „freidenkende und unbefangen schreibende“ Erasmus bleibt Priester, wenn auch mit weltlichen Spielräumen. Er erlangt Dispens, wo immer ihn der Priesterschuh drückt. Zweig erkennt einen „innern Unabhängigkeitszwang“.

Protestantische Unternehmungslust/Evangelischer Optimismus

Langereis beginnt ihre Biografie mit der Schilderung einer Expedition, die 1598 im Hafen von Goeree-Overflakkee ihren Anfang nimmt. Die Autorin beschwört den „protestantische(n) Unternehmergeist (und) evangelische(n) Optimismus“ der Rotterdamer Kaufleute Pieter van der Hagen (einem Sklavenhändler) und Johan van der Veeken. Sie vertrauen ihre Investitionen Admiral Jacques Mahu (1564 - 1598) an.

Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-

Am 27. Juni 1598 sticht Mahu mit fünf Schiffen und knapp fünfhundert Mann Besatzung in See. Das ist der Auftakt eines einzigen Desasters. Mahu fährt auf der in „De Liefde“ umgetauften „Erasmus“. Langereis reicht die Referenz für einen langen Riemen. Ich folge dem Schleif gern. Mahu überlebt kaum die erste Etappe. Seine Laufbahn endet am 23. September vor der afrikanischen Küste. Simon de Cordes übernimmt das Kommando. Erst ein Jahr später erreicht ein Teil der Mannschaft den Pazifik. Allein die Ex-Erasmus erreicht mit noch vierundzwanzig Mann an Bord im Juni 1600 die japanische Küste. Da beginnt eine sagenhafte Aufstiegsgeschichte. Der Navigator William Adams (1564 - 1620) erwirbt das Vertrauen von Tokugawa Ieyasu (1543 - 1616). Der Begründer des Tokugawa-Shogunats erhebt Adams in den höchsten Samurai-Stand. Der Engländer legt seinen Taufnamen ab und mehrt seinen Ruhm als Miura Anjin.

Seit den 1580er Jahren schränkt das Tokugawa-Shōgunat die Verkehrsfreiheit der als Südbarbaren geschmähten Portugiesen und Spanier ein. 1635 verlieren alle Japaner:innen ihre Reisefreiheit. Von 1639 bis 1853 bleibt man unter sich.

Des kläglichen Anfangs zum Trotz kommen die Niederländer mit den Tokugawas ins Geschäft.1633 dichtet Tokugawa Iemitsu, dritter Shōgun seiner Dynastie, Japan komplett ab. Das Shōgunat beschränkt den Kontakt zu Europäern auf Vertreter der Verenigden Oostindischen Compagnie, die als Expatriierte auf einer stinkenden, aus dem Meerbusen vor Nagasaki ragenden, mühsamer Landgewinnung abgetrotzten Erhebung namens Dejima konzentriert werden. So kläglich und unhygienisch da alles ist, es bietet sich doch einer Monopolstellung zur Nachsicht an. Dass die kleinen Niederlande Portugal ausstechen, verdankt sich vielen verdeckten Bemühungen und hat jedenfalls auch diesen Grund: die Holländer missionieren nicht; anders als die katholischen Imperialisten, die Japan „entdeckten“ und ihr Kolonialprogramm nach Schema F betreiben. - Und auch wieder nicht. Die besonderen kulturellen Formate Japans werden von allen Reisenden geschildert. Im Gegenzug studieren Japaner:innen europäische Vorsprünge (nach der Abschottung im Rahmen der Hollandkunde-Rangaku).

Die Dutch East India Company hat keinen hoheitlichen Status. Japan unterhält diplomatische Beziehungen zu einem Handelshaus. Die niederländische Regierung erwartet von den jährlich wechselnden Faktoreivorstehern, dass sie über den Betrieb hinausreichende Interessen wahrnehmen und die Vorteile abfischen, die sich aus dem Alleinvertretungsanspruch ergeben.

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Tokugawa Iemitsu betreibt Christenverfolgung im römischen Stil. Viel weiß man über den Shogun von François Caron. Der Sohn hugenottischer Flüchtlinge kommt als Küchenhelfer auf einem holländischen Schiff nach Japan. Er bildet sich zum Dolmetscher aus und findet in dieser Rolle Verwendung beim Fürsten. 1639 wird Caron Chef der Niederlassung. Später orientiert er sich nach Batavia. Er kämpft gegen die Portugiesen auf Ceylon (Sri Lanka). Als Gouverneur auf der Insel Formosa erreicht Caron einen Karrierehöhepunkt. Schließlich entkleidet er sich seiner niederländischen Würden und tritt in französische Dienste. In Frankreich nimmt man ihn als Franzosen und so auch als den ersten Franzosen, der in Japan zum Schriftsteller wurde.

Kaufleute erfüllen Aufgaben der Krone. Sie bestimmen die Kolonialpolitik und verwischen die Grenzen zwischen privatem Handel und öffentlicher Verwaltung. Den ostindischen Dienst lassen sie auf der ganzen Linie zu einer Söldnersache herunterkommen. Zu Carons Zeiten als CEO bringt eine Ladung der Dutch East India Company-Retourflotte bei einem Einsatz von sechshunderttausend Gulden auf dem Amsterdamer Markt zwei Millionen. Wegen solcher Spannen grassiert Spekulationsfieber bei japanischem Kupfer und Silber. Um keine Schmälerungen des Kredits zu erleiden, bedient das Unternehmen seine Aktionäre so lange, bis es im späten 18. Jahrhundert mit einem Ausfall von hundertsechzig Millionen Gulden dem Staat zufällt.

Aus der Ankündigung

Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre.  Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.

Zur Autorin

Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.