„Wenn Sie, meine Herren, (...) das unzählbare Gewirre der Sterblichen vom Monde herab sehen könnten, so würd es Sie dünken, Sie sehen Heere von Mücken oder Schnaken, die sich untereinander erzanken, bekriegen, belauern, berauben, spielen, Mutwillen treiben, geboren werden, fallen, sterben.“ Erasmus von Rotterdam
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„Erasmus, Desiderius … war der 1467 geb. natürliche und 14jähr. verwaiste Sohn unglücklicher Eltern und wurde in der Reformationszeit der persönliche, von Kaiser u. Königen gefeierte Mittelpunkt des schriftstellerischen Europas. Herders Conversations-Lexikon, 1854, Quelle
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„Er hat sein Bekenntnis zur Unabhängigkeit, sein nulli concedo, nicht stolz vor sich hergetragen wie eine Monstranz, sondern wie eine Diebslaterne unter dem Mantel versteckt; in Schlupfwinkeln und auf Schleichwegen hat er sich zeitweilig geduckt und gedeckt während der wildesten Zusammenstöße des Massenwahnes.“ Stefan Zweig, „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“
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“Knowing is not enough.” Bruce Lee
Kommunikative Natur/Trüber Massenzwang/Geduldiges Genie
Stefan Zweig platziert Erasmus auf einer Traditionslinie mit Goethe. Bei beiden erkennt er eine „harmonische Zusammenfassung … von Sendung und Lebenssinn … im (versöhnlichen) Geiste der Humanität“. Zweig attestiert Erasmus eine „kommunikative Natur“ und kennzeichnet das Wort als Zitat. Allem Tumult abhold sei dem Gründlichkeitsgigant „jeder trübe Massenzank“ unlieb gewesen.
Zweig knüpft seinem Helden einen Tugendkranz im Themenkreis der Versöhnlichkeit.
Mit seinen Neigungen und Fähigkeiten schafft Erasmus einen Kanon der Selbständigkeit unter widrigen Bedingungen. Er vereint auf sich das Potential eines Philologen, Pädagogen und Poeten. Die Theologie bildet eine Basis, die Spielräume eröffnet. Erasmus gewinnt der Renaissance alles ab; im Gegensatz zu den Bilderstürmern der Reformation. Auf die Großen der Epoche wirkt er stilbildend. Erasmus‘ bevorzugte Sprache, das Latein, nennt Zweig „ein erstes Esperanto des Geistes“.
Der Biograf stellt seinen Helden an die Spitze einer imaginären Gelehrtenrepublik, die sich einem „panhumanen Ideal“ verschreibt. Da ist nichts für die Hater des frühen 16. Jahrhunderts.
Keine Kirchenspaltung
1514 lässt sich Erasmus in Basel nieder; in erster Linie wegen der europaweit renommierten Druckereien. Akademisch antizipiert Erasmus die Leitlinien der Reformation. Er formuliert protestantische Sprengsätze. Er schwingt den evangelischen Besen, nicht zuletzt als Gegner des Ablasshandels. Doch will der „Evolutionär“ partout keine Kirchenspaltung. Martin Luther begegnet Erasmus auf der historischen Bühne als furioser Gegenspieler.
Zweig konturiert Luthers Gestalt gewiss realistischer als viele Weichzeichnerinnen. Der Nachgeborene sieht „den dämonisch Getriebenen dumpfer deutscher Volksgewalten. Mit einem Schlage zertrümmert Doctor Martins eiserne Bauernfaust, was die feine, bloß mit der Feder bewehrte Hand des Erasmus zaghaft zärtlich zu binden sich bemühte“.
„Weil Erasmus zu keiner Partei will, zerfällt er mit beiden, ‚den Guelfen gelte ich als Ghibelline und den Ghibellinen als Guelfe‘. Einen schweren Fluch spricht Luther, der Protestant, über seinen Namen aus, die katholische Kirche wiederum setzt alle seine Bücher auf den Index.“
Erasmus fühlt sich von einem „Weltsturm“ erfasst. Der pietistische Furor erscheint ihm als „Unglück“. Er fürchtet den Ausgang der „Luthersache“. 1529 erreichen die Stürmer und Dränger Basel. Sie toben sich im Münster aus. Erasmus flieht nach Freiburg im Breisgau. Ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1536 kehrt er nach Basel zurück.
Seelsorgerischer Trott - Zurück auf Los
Erinnern wir uns kurz noch einmal an die Anfänge. Der unehelich in Rotterdam zur Welt gekommene, in Gouda aufgewachsene Erasmus entgeht dem Schicksal eines Deklassierten als guter Schüler nicht zuletzt. Er erhält Musikunterricht in Utrecht. In Deventer besucht er eine Lateinschule. Sein erstes Vorbild ist der Frühhumanist Rudolf Agricola. Erasmus schließt sich den Augustiner-Chorherren zu Steyn an. Da empfängt er 1492 die Weihe. Die vorgezeichnete Laufbahn bietet dem jungen Priester kaum lohnende Ziele. Dem seelsorgerischen Trott leiht er nur einmal sein Geschick, vielem gerecht zu werden: als Hirte eines Sprengels in Cambridge. 1509 sticht Erasmus mit einem „Lob der Narrheit“ hervor. Der satirische Rundumschlag entspricht einer mutigen Tat zuzeiten der Inquisition. Mit rhetorischer Raffinesse zieht sich der Spötter aus der Affäre. Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Erasmus von Rotterdam, »der erste bewußte Europäer, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals«, wurde durch seine Kritik an Theologie und Kirche zum Wegbereiter der Reformation. Doch als Kurfürst Friedrich ihn im Glaubensstreit zwischen Luther und dem Papst um sein Votum bat, scheute der wohl berühmteste und gelehrteste Mensch seiner Zeit die Verantwortung einer Entscheidung. Zweig fasst Triumph und Tragik seines Lebens mit der Sympathie eines Wesensverwandten zusammen: »der freie, der unabhängige Geist, der sich keinem Dogma bindet und für keine Partei entscheiden will, hat nirgends eine Heimstatt auf Erden«.
Zum Autor
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.