Teuflischer Einfallsreichtum
„Sentimentale Freundschaften waren in den weltlichen Kreisen des fünfzehnten Jahrhunderts ebenso edel wie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Gleich gekleidete Freundschaftspaare, die Zimmer, Betten und Herzen teilten, waren an jedem Hof zu finden. Der Aufbau und die Pflege intimer Freundschaften waren nicht auf die Aristokratie beschränkt.“ Johan Huizinga
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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier.
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„Durch Kriegsführung kann niemand seinem Feind Schaden zufügen, ohne dass er vorher unzähliges Unglück über sich selbst gebracht hat.“ Johan Huizinga
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„Wenn es menschlich ist, zu irren, warum sollten wir einen Menschen unglücklich nennen, weil er irrt, wenn er so geboren wurde, so gemacht wurde und im Allgemeinen so bestimmt ist.“ Johan Huizinga
Der Seeweg nach Indien
Stefan Zweig verknüpft das europäische Zerwürfnis der Kirchenspaltung mit dem Aufbruch nach Amerika. Für den Autor beweist der Kolonialismus die altweltliche Zukunftsfähigkeit um 1600.
„Mit einem Schlage erweitert sich der europäische Raum ins Welthafte, eine Entdeckung jagt die andere, und innerhalb weniger Jahre wird durch die Verwegenheit eines neuen Seefahrergeschlechts nachgeholt, was Jahrhunderte durch ihre Gleichgültigkeit oder Mutlosigkeit versäumten … Über Nacht ist für die denkende Menschheit der runde Ball, auf dem sie bisher ungewiss und bedrückt als auf einer Terra incognita durch den Sternenraum kreiste, zu einer erfahrbaren, durchfahrbaren Wirklichkeit geworden.“
Die Erkundung des Seewegs nach Indien konkurriert mit einem höheren Staatsziel - der Rückeroberung des Heiligen Landes. Für das Seelenheil eines Christen liegt in Westindien wenig und in Jerusalem viel. Die königlichen Hoheiten Isabella und Ferdinand haben den Ehrgeiz von Musterschüler:innen. Sie wollen die besten katholischen Monarchen sein und folglich die Lieblingsköniginnen des Papstes in seinem römischen Atrium des Himmelreichs.
Viele Landnahmen in Lateinamerika tragen Heilserwartungen der Kolonisten im Namen. Die Vorstellung, auf der Südhalbkugel (unter einem neuen Himmel) noch einmal eine gottgefällige Welt zu finden, füllt mehr als einen neuzeitlichen Allgemeinplatz.
Der Genuese Kolumbus verspricht seinen spanischen Herrschaften die Mittel für eine grandiose Himmelfahrt. Im Frühjahr 1495 passiert er den Drachenschlund vor Trinidad und stößt auf vermeintliche Inder:innen, die nicht freundlich sind. Eine Streitmacht stellt sich der Expedition entgegen.
Die jähen Vergrößerungen der europäischen Spielräume provozieren „eine … heftige Umschaltung im Seelenraum“. Das angestammte Maß gilt nicht mehr. Tausend Jahre alte Gewissheiten zerfallen blitzartig im Licht der neuen Anschauung. Im Spektrum zwischen Geografie und Geometrie ergeben sich unerwartete Perspektiven.
Das Überkomme verliert seine Tauglichkeit. „Ein geistiges Fieber nach Wissen und Wissenschaft entsteht aus der plötzlichen Durchblutung des europäischen Organismus mit neuem Weltstoff, der Rhythmus beschleunigt sich.“ An den Peripherien der Aufbrüche verschleppen Beharrungskräfte einer abgelebten Ordnung den Niedergang mittelalterlicher Formate.
Alte Wertvorstellungen zerschellen an neuer Technik.
Mit Amerika hat Europa nicht gerechnet. Der Kontinent liegt einer unhaltbaren Vorstellung von Welt und Handel im Weg. Zwischen dem Start (Spanien/Portugal) und dem Ziel (den Molukken) liegt nicht nur viel mehr Wasser, sondern auch viel mehr Land als erwartet. Seit Gewissheit darüber herrscht, dass Kolumbus nicht in Westindien strandete, hofft jeder Kapitän auf großer Fahrt, einen Durchgang zum Pazifik zu entdecken.
„Wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden“, dichtet Andreas Gryphius in der Rechtschreibung seiner Zeit. Als Juan Díaz de Solís, nach einer Liebespleite an Melancholie und Fernweh erkrankt, 1515 sein Schiff in eine Bucht der südlichen Ostküste Amerikas steuert, glaubt er die Wasserstraße seines Ruhms erreicht zu haben. „Entdeckt“ hat er ein Mündungsbecken. Die örtliche Bürgerwehr begrüßt Solís mit Speeren.
Alle wollen dahin, wo der Pfeffer wächst. Die Mündung heißt noch Solís-Fluss, als Sebastian Cabot sie zum Ankerplatz bestimmt. Er verbraucht das Holz von zwei Schiffen für ein Fort. Er erkundet den Uruguay, in der Hoffnung, der Strom gestatte einen Durchgang vom Atlantik zum Stillen Ozean. Indigene Milizen zwingen Cabot immer wieder in sein Fort. Er revanchiert sich mit Strafexpeditionen am Río Paraná. Er folgt dem Zwilling des Uruguay. In die Gegend von Cara-Cara (heute Río Tercero) stellt Cabot vorausschauend die nächste Holzburg.
Einheimische tauschen Gold und Silber gegen Abfall. Cabot vermutet Erzadern direkt vor der Palisade. Den „Solís-Fluss“ tauft er in Rio de la Plata (Silberfluss) um. Das ist ein Propagandacoup. Indem Cabot sich beeilt, in Spanien Erwartungen hochzuschrauben, macht er die Welt um eine Täuschung reicher.
Alter Adel versus neues Geld. Der Raubritter- und Aufsteigerreichtum der Konquistadoren verschiebt in Spanien die Gewichte. Sprösslinge großartiger Familien bekommen Konkurrenz von Hinz und Kunz. Nun spielen Söhne von Reinigungskräften mit. Neue Allianzen bieten sich an. Des Kaisers sagenhaft wohlhabender Oberschenk Pedro de Mendoza geht eine Geschäftsbeziehung mit dem Abenteurer Cabot ein.
Mendoza kann seine eigene Flotte auf den Grund des Meeres schicken, ohne Pleite zu gehen. Am 24. August 1534 spuckt er zum letzten Mal in das Hafenbecken von Sevilla. Er startet mit vierzehn „stolzen Gallionen“. Mendoza bringt zweiundsiebzig Pferde, hundertfünfzig Deutsche und Holländer unter dreitausend gemeinen Männern, achtzehn Missionare und die Blüte seines Landes in die Neue Welt. Mit ihm fahren zweiunddreißig Mayorazgo - blanker Uradel. Mendoza reist mit einem Freibrief. Der Kaiser hat ihm Länder versprochen. Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Erasmus von Rotterdam, »der erste bewußte Europäer, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals«, wurde durch seine Kritik an Theologie und Kirche zum Wegbereiter der Reformation. Doch als Kurfürst Friedrich ihn im Glaubensstreit zwischen Luther und dem Papst um sein Votum bat, scheute der wohl berühmteste und gelehrteste Mensch seiner Zeit die Verantwortung einer Entscheidung. Zweig fasst Triumph und Tragik seines Lebens mit der Sympathie eines Wesensverwandten zusammen: »der freie, der unabhängige Geist, der sich keinem Dogma bindet und für keine Partei entscheiden will, hat nirgends eine Heimstatt auf Erden«.
Zum Autor
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.