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2023-12-04 18:37:43, Jamal

Frondienste des Geistes

„Das ist, wenn der Geist seine Fesseln sprengt, die Flucht sucht und sich nach Freiheit sehnt. Das ist also das Glück, aber auch die Loslösung von den irdischen Dingen und die größte Weisheit. Das wahre Glück ist die Freiheit von sich selbst, das Glück der Liebenden, die Platon als die glücklichsten von allen bezeichnet.“ Johan Huizinga

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„Aber das Schicksal treibt uns weiter.“ Johan Huizinga

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„Die ganze Renaissance hegte dieses Bild eines ruhigen, heiteren und doch ernsthaften Gesprächs zwischen guten und weisen Freunden in einem kühlen Haus unter einem Baum. Gelassenheit und Harmonie. Das ganze Jahrhundert war ein Jahrhundert der Einfachheit, Ehrlichkeit, Wahrheit und Natürlichkeit.“ Johan Huizinga

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„Im Lateinischen war (Erasmus) … ein zweites Mal geboren worden. Das war die einzige wahre Sprache für Menschen, die sich für ein Schriftstellerleben entschieden.“ Sandra Langereis

Abschreiben als Gottesdienst  

Das bibelfeste Latein und die gotische Handschrift sind Insignien eines besonderen Gottesdienstes. Jahrhundertelang entstehen in den Skriptorien der Klöster Abschriften bedeutender Werke der Christenheit in einer bis auf den letzten Punkt kodifizierten Praxis. Die Kopisten verrichten Frondienste des Geistes.

„Drei Finger schreiben, der ganze Körper schuftet.“

Unter dem Druck des Buchdrucks transformiert sich die mittelalterliche Überlieferungskultur. Verbesserte Verfahren zur Papierherstellung verdrängen das Pergament und erhöhen die Reichweiten von Bildungsgütern.

In diesem Spannungsfeld wächst Erasmus als unehelicher Priestersohn in „einer Umgebung mit Büchern“ auf. Sein Vater, ein weitgereister und gut informierter Ex-Kopist, sorgt für die frühestmögliche Alphabetisierung des illegitimen Nachwuchses in einer Gesellschaft ohne Schulzwang. Unterrichtet wird Erasmus zunächst in der allgemein vernachlässigten Muttersprache. Orthografie und Grammatik unterliegen keiner Formalisierung. Die Verschriftlichung des Holländischen beschränkt sich vielfältig auf Zunftangelegenheiten. Vor allem geht es um die Lesefähigkeit künftiger Handwerker. Die Verfassung des Gehobenen verbietet eine Verwendung von Werkzeugen, die auch dem Plebs zur Verfügung stehen. Entsprechend ungezwungen holzen die kleinen Leute. Auch an die Unterrichtenden werden geringe Anforderungen gestellt.       

„Eigentlich habe (Erasmus) erst wirklich lesen und schreiben gelernt, als er mit Latein angefangen habe.“

Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-

Für Erasmus bleibt Holländisch „eine Sprache für kleine Kinder … Im Lateinischen … (wird) er ein zweites Mal geboren“. „Das Einüben einer gleichmäßigen Schrift“ steht zunächst im Vordergrund. Da gelingt Erasmus wenig. Seine Sauklaue gibt ihm mitunter selbst Rätsel auf.   

Der Schüler befreit sich aus „intellektueller Knechtschaft“. Er orientiert sich zumal an karolinischen Adaptionen der antiken Schriftformen, die zu „stilistischer Klarheit“ erziehen.

Ökonomische Buchschrift

Langereis spricht von zwei mittelalterlichen Renaissancen: der karolingischen im 8. und einer, die dreihundert Jahre später in den Domschulen stattfindet. Erasmus bezieht sich auf die Nachahmer griechischer Vorbilder sowie auf die antiken Originale, während seine Zeitgenoss:innen einem gotisch-komprimierten, platzsparenden Format den Vorzug geben. Langereis erklärt den vor 1500 aktuellen Trend zur „ökonomischen Buchschrift“ mit rasant gestiegenen Pergamentpreisen. Papiermanufakturelle Fortschritte entspannen die Lage an der Buchstabenfront. Sie ziehen die gotische Schrift aus dem Verkehr. Das Pfund, mit dem der Vater des Genies als Kopist einst wucherte, verliert seine Bedeutung an zwei Innovationen. Zur kostengünstigen Papierproduktion und dem Buchdruck bald mehr.         

Aus der Ankündigung

Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre.  Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.

Zur Autorin

Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.