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2023-12-12 11:16:12, Jamal

„Ein Schriftsteller, der seine Autobiografie verfasst, beschreibt sich nicht, er erfindet sich.“ Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“

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„Alles Wirre widerte (Erasmus) an, alles verworren Mystische und verstiegen Metaphysische stieß ihn organisch ab; wie Goethe hasste er nichts so sehr wie das Nebulose.“ Stefan Zweig

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„Der größte Philologe unserer Zeit, Friedrich August Wolf aus Berlin, ist hier, auf seiner Durchreise nach dem südlichen Frankreich begriffen. Goethe gab ihm zu Ehren heute ein Diner.“ Johann Peter Eckermann

 

In „Wir Philologen“ fasst Nietzsche Wolf zustimmend so zusammen: „Am Ende dürften nur die Wenigen zu echter vollendeter Kennerschaft gelangen, die mit künstlerischem Talent geboren und mit Gelehrsamkeit ausgerüstet, die besten Gelegenheiten benutzen, die nöthigen (Originalschreibweise) technischen Kenntnisse sich praktisch und theoretisch zu erwerben.“  

„Ich kann mit Wolf nicht anders auskommen … dass ich immer als Mephistopheles gegen ihn agiere. Auch geht er sonst mit seinen inneren Schätzen nicht hervor.“ Goethe 1824 im Gespräch mit Eckermann

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„Genieße den Tag, vertraue so wenig wie möglich auf den nächsten.“ Horaz

Fromme Aversionen

Erasmus kritisiert das „fromme Bibellesen“ im Rahmen blühender Volksfrömmigkeit. Er plädiert für ein Studium der Evangelien „auf der Grundlage humanistischer Kenntnisse“. „(Gut) informierte Gläubige (seien) bessere Christen.“ Seine Ansichten provozieren den Widerspruch jener, die Lektüre mit Gebet gleichsetzen. Sie singen das Loblied von Demut und Askese. Sie geißeln die „eitle Sucht nach sterilem Wissen“. Mit aversiver Frömmigkeit versichern sie sich gegen die Hybris selbstermächtigter Renaissance-Rebell:innen, die mit ihrem irdischen Dasein erfreuliche Erwartungen verbinden.

Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-

Erasmus verbringt Jahre in einem „Zuchthaus des Geistes“ (Stefan Zweig). Die Zuchtmeister erachten die „Zähmung“ von Knaben als ihre vornehmste Aufgabe. Institutionalisierte Gewalt bewirkt, dass Novizen den Glauben nicht verinnerlichen, sondern im dumpfen Aberglauben Zuflucht suchen.

Verdammtes Kind

Erasmus erklärt sich standesrechtlich zu einer Person, die er nicht ist. Er behauptet, als Sohn eines Priesters zwar geboren, nicht aber gezeugt worden zu sein. Im Vertrauen auf eine zügige Eheschließung habe sein Vater als Ungeweihter eine Jugendliebe geschwängert.   

Die Wahrheit sieht anders aus. Erasmus stammt nicht nur aus der unehelichen Verbindung eines Priesters, und gilt deshalb nach den Leitlinien seiner Epoche als „verdammtes Kind“, er hat auch einen älteren Bruder, den er bei jeder Gelegenheit unterschlägt.

Langereis erörtert die Verlässlichkeit autobiografischer Einlassungen. Die Biografin weiß: „Ein Schriftsteller, der seine Autobiografie verfasst, beschreibt sich nicht, er erfindet sich.“

Erasmus legt sich seine Herkunft zurecht. Was sich unter den Teppich kehren lässt, verschwindet. Langereis verweist darauf, dass „das Eheverbot für Priester erst relativ spät in das Kirchenrecht aufgenommen (wurde)“.

Paulus sagt: „Um die Hurerei zu vermeiden, habe ein Jeder sein Weib.“

Es geht in der christlichen Ehe nicht jedem antiken Autor um den Fortpflanzungsbetrieb, sondern einigen viel mehr um Zucht und Unzucht. Die Versuchung ist der große Widersacher, nicht der Tod. Verführung ist die wahre Gewalt, sagt Schiller.  

Das Christentum dreht sich nicht um Tod und Geburt. Es verhandelt das Verhältnis des Gläubigen zu Gott.

Schließlich könnte Gott jederzeit so viele Kinder zur Welt kommen lassen, wie er will. In „Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit“ beschreibt Michel Foucault beinah am Ende seiner Erforschung von „Sexualität und Wahrheit“ das Projekt des Christentums als eine post-antike Verbesserung des Menschen in Glauben und Verzicht. Foucault zeigt, dass die Ökonomisierung der Sexualität, die sich bis in den Strafvollzug hinein erstreckt, nicht erst vom Christentum ausgelöst wurde, sondern vorher da war. Die apostolischen Einlassungen basieren auf Milieuübereinkünften in einer nicht christlichen Welt. Foucault erklärt, dass die Kirchenväter zu Anfang der christlichen Zeitrechnung stoische Leitsätze kopierten. Er durchforstet die Reglements von Taufe, Sünde und Buße in der Gemeinschaft der Gläubigen. „Die Vielseitigkeit und Unbeständigkeit“ des Menschen verlangen Regulation. Über die Vereinfachung gelangt man zur Askese. Die Antwort auf alle Unwägbarkeiten lautet Erziehung. Sie findet statt in Klöstern, die als Wissenshochburgen fungieren.  

Zitate aus: Michel Foucault, „Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit“, Band 4., herausgegeben von Frédéric Gros, aus dem Französischen von Andrea Hemminger, Suhrkamp, 557 Seiten, 36,-

Die Zeugung hängt schon deshalb nicht an der Frau und der Ehe, weil Adams Existenz von beiden nicht abhing. Gott braucht keine Frau und er muss niemandes Gatten sein, um zeugen zu können.

Kinder bezeugen die Auferstehung. Biologische Erklärungen, die alles auf die Fortpflanzung reduzieren, spielen lange keine Rolle. Die Zeugung gehört zum Paradies, die Ehe zum Sündenfall. Die Ehe ist eine jener Plagen, die den aus dem Paradies vertriebenen Menschen verdrießen. Sie unterliegt thematisch der Sterblichkeit, die Zeugung der Unsterblichkeit. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der „Ökonomisierung der Wollust“. Man lebt sich im Rahmen der Ehe aus. Der Mann darf sich der Frau so wenig verweigern wie sie sich ihm. Das hebt die allgemeine Ungleichheit situativ auf.

„Wenn der Mann die Mitgift seiner Frau als sein Eigentum betrachten kann, dann gründet sich dies auf die Ansicht, dass ihr der Körper ihres Mannes gehört.“

Das sagt Johannes Chrysostomos, auf den sich Foucault stützt. Foucault erläutert, warum und wie die Wollust eingesperrt wurde. Das führt zweifellos auf mehr Allgemeinplätze als seine Einlassungen zur Ehe. In gewisser Weise ist die christliche Ehe eine Fortsetzung der klösterlichen Gemeinschaft im Geist der Enthaltsamkeit, soweit es die Ethik und die Spiritualität betrifft. Alle Prozesse sind geklärt und transformiert, weder das Trieberlebnis noch die Zeugung gewinnen in der Summe eine herausragende Bedeutung.

Die Wollust wird in der Ehe so gehandhabt wie die Enthaltsamkeit im Kloster. Manchen erscheint die Ehe so verächtlich wie der Ehebruch. Das beschäftigt antike Autoren mehr als die Fortpflanzung.  

Ich schließe die Abschweifung mit einem Gedanken von Augustinus, den Foucault zum wichtigsten Gewährsmann macht: „Aber jeder Freund der Weisheit … würde lieber … ohne Lust Kinder erzeugen.“       

Aus der Ankündigung

Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre.  Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.

Zur Autorin

Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.