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2023-12-15 16:58:35, Jamal

Gemütsgärtner im Ahnentross

Luther und Erasmus begegnen sich lediglich „im geistigen Weltraum“. Persönlich weichen sie einander aus. Die Vermählung der Antagonisten beschränkt sich auf den Devotionaliendiscounter in all seinen nordeuropäischen Ausprägungen. Auf zahllosen Stichen für den alltagsgläubigen Gebrauch bilden sie ein Paar.

„In Fleisch und Blut, in Norm und Form, in Geisteshaltung und Lebenshaltung, vom äußeren Leib bis zum innersten Nerv gehören sie gleichsam verschiedenen, feindgeborenen Charakter… an: Konzilianz gegen Fanatismus, Vernunft gegen Leidenschaft, Kultur gegen Urkraft, Weltbürgertum gegen Nationalismus, Evolution gegen Revolution.“

Stefan Zweig illustriert und arrondiert den Gegensatz weiträumig. Sein Luther strotzt vor Vitalität und Virilität. In ihm trifft der Bergmann den Bauern im Ahnentross eines handfesten Akademikers. Dieser Theologieprofessor kann sich mit Erasmus nicht messen.

„Erasmus emanzipierte die Bibelleser, indem er sie gegen die Wörter wappnete … Luther machte die Bibelleser den Wörtern gegenüber wieder fügsam.“ Sandra Langereis

„Gesund und übergesund“ ist Luther nach Zweig.

„Ich fresse wie ein Böhme und saufe wie ein Deutscher.“ 

Erhebt die „Überschussnatur“ ihre Stimme, bebt der Erdkreis.  

„Luthers Genie liegt tausendmal mehr in dieser seiner vollsinnlichen Vehemenz als in seiner Intellektualität.“ Stefan Zweig

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„Niemals würde ich mir um der Wahrheit willen den Kopf abschlagen lassen.“ Erasmus von Rotterdam; zitiert nach Sandra Langereis

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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier.

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„Die Atzeken opferten so (angestrengt) wie wir arbeiten.“ Georges Bataille

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„Ihr Leben lang hatten sie ihren Unmut verheimlicht, so fiel es ihnen nicht schwer, ihren Gegnern mit gelassener Miene entgegenzutreten, während sie zugleich einen Schlachtplan entwarfen.“ Marie Vieux-Chauvet

Am 07.02. 2023 © Jamal Tuschick

Genialer Mummenschanz

Schon spekulieren dynastische Kaufmannsfamilien auf amerikanische Gewinne. Sie rüsten militärisch gestraffte Expeditionen aus. Das Kommando übertragen sie allein ihnen rechenschaftspflichtigen Feldhauptmännern. In ihrer Regie spielen staatenbildende Maßnahmen keine Rollen. Die Interessen der Entrepreneure kollidieren mit den Interessen der Konquistadoren, die offiziell für Gott und Vaterland antreten.

Der Protestantismus ist ein weiterer Reizpunkt. Denken Sie einmal wieder an Erasmus von Rotterdam. Anfang der Nullerjahre des 16. Jahrhunderts kommt Erasmus bei seinem ungemein tatkräftigen Freund Thomas Morus in London unter. Der Inhaber bedeutender Ämter führt eine exemplarische Existenz und ein offenes Haus. Seine engste Umgebung gleicht einem Zukunftslabor. In dieser Sphäre entsteht die erstmals 1511 „im Quartformat“ publizierte „Scherzschrift“ (Stefan Zweig) „Lob der Torheit“.

„Der einmalige und unwiederholbare Kunstgriff dieses Werkes ist ein genialer Mummenschanz: Erasmus nimmt nicht selber das Wort, um alle die bitteren Wahrheiten zu sagen, die er den Mächtigen dieser Erde zudenkt, sondern er schickt statt seiner die Stultitia, die Narrheit, auf das Katheder, damit sie sich selber lobe. Dadurch entsteht ein amüsantes Quiproquo.“  

Galliges Genie

Erasmus verstellt die Wege zu eindeutigen Zuordnungen. Die Frage wer sagt was verhält sich abdeckend zum subversiven Grund des Gesagten. Unglaublich geschickt schützt sich der Autor vor der Inquisition. Zweig erkennt eine „souveräne Maskenkunst“. Er spricht vom „Kernschuss ins Herz der Zeit aus völlig lockerer, bloß spielender Hand getan“. Der Autor zeigt seinen Helden als einen vor den „Türen der Mächtigen“ zwar bitter und gallig gewordenen, von jedem rebellischen Impetus jedoch unberührten Diagnostiker.

In weiteren Ausgaben kommentiert Erasmus das Werk. Er schildert tatsächliche und vorgebliche Intentionen aus, und erklärt, dass sein „Lob“ im Ganzen „als pädagogischer Text zu lesen sei“ (Sandra Langereis).       

Das Pamphlet trifft einen Nerv. Viele Gläubige verurteilen die Zügellosigkeit geistlicher Renaissancegranden und verlangen eine Kirchenreform nach dem Wortlaut der Evangelien. Sie wenden sich gegen den „Missbrauch des Reliquienhandels und (gegen) den Ablassunfug“. Erasmus stellt die Herrschenden bloß, ohne aus der Deckung zu kommen. Er plädiert für eine „Renaissance des Religiösen“. So avanciert er zum Vordenker der Reformation. Gleichzeitig graut ihm vor einem Schisma.

Amerika bietet sich zur ungehemmten, nicht staatlich gesteuerten Religionsausübung an. Nicht mit uns, sagt die Inquisition und zieht ihre Kreise. Sie etabliert sich in Lima. Die katholische Kirche betrachtet die lokale Bevölkerung als gente sin razón - Entrechtung via Rechtsprechung. Ein Kastensystem sichert die institutionalisierte Diskriminierung. Aus einer Verbindung zwischen einheimisch und afrikanisch geht der „Zambo“, aus der Verbindung von spanisch-indigen und indigen-indigen ein „Coyote“ hervor. „Blutreinheit“ ist ein spanischer Leitbegriff. Die Vergewaltiger verachten die Kinder der Vergewaltigten. Sie schließen sie aus der gesellschaftlichen Mitte und verwalten ihre Kriterien willkürlich. Morgen mehr.