„Der organische Grundfehler des Humanismus war, dass er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen. Diese akademischen Idealisten glaubten schon zu herrschen, weil ihr Reich weithin reichte, weil sie in allen Ländern, Höfen, Universitäten, Klöstern und Kirchen ihre Diener, Gesandten und Legaten hatten … aber im tiefsten umfasste dies Reich doch nur eine dünne Oberschicht und war schwach verwurzelt mit der Wirklichkeit.“ Stefan Zweig
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„Jeder Brief, den Erasmus schreibt, wird vom Empfänger in Brokat eingeschlagen und vor ehrfürchtigen Freunden wie eine Reliquie enthüllt, eine Empfehlung gar des Meisters öffnet als Sesam alle Türen, – nie hat ein einzelner Mensch, nicht Goethe und kaum Voltaire, eine solche weltgebietende Macht in Europa bloß kraft seines geistigen Daseins besessen.“ Stefan Zweig
Dürre Seelen
Im Zenit seines Ruhms überragt Erasmus die Herausragenden. Jedenfalls behauptet das Stefan Zweig in seiner Erasmusiade „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“. Danach erscheint Erasmus seiner Epoche bedeutender als Dürer, Raffael, Leonardo, Paracelsus und Michelangelo.
„Kein Lob ist für ihn zu groß“, schreibt Zweig. Er verkörpert „das denkbar Beste und denkbar Höchste, wie Melanchthon in seinem … Lobgesang rühmt“. Erasmus kursiert als „doctor universalis“ und „Beschützer der ehrlichen Theologie“.
Nach den Begriffen seiner Verehrer:innen überschreitet er das menschliche Maß. Nun beginnt „ein Wettlauf … um die Gunst des … Gelehrten“, der bis eben am Stock der Armut ging und als Bettler in Academia nicht zuletzt die Register der Dürftigkeit studierte. Mit Schmeicheleien hatte er sich über Wasser gehalten und seine Not oft beklagt. Dabei zeichnete er die Konturen einer neuen Existenzform vor. Erasmus verkörpert den freien Autor in seiner Urfassung. Es gibt noch kein Verständnis für diese Variante. Es fehlt ein gesellschaftlicher Ort für jene Freiheit, die sich kaum empfinden lässt; die als unklarer Antrieb klandestin wirkt.
Erasmus entzieht sich der Ordnung seiner Zeit. Er weigert sich das Fatum einer illegitimen Herkunft anzuerkennen. Der uneheliche Priestersohn streift das Stigma eines „verdammten Kindes“ ab. Er erfindet sich nach seinen Bedürfnissen. Als Geistesfürst beansprucht er das Prestige einer nobilitierten Herkunft, obwohl er lange nicht mehr ist als ein pflichtvergessener Mönch, der sich mit immer neuen Schlichen um die Klosterklausur herumdrückt und mit angemaßten klerikalen Posen über seine Verhältnisse in Erscheinung tritt. Während die meisten Menschen ihr Schicksal für gottgegeben halten, gestaltet Erasmus sein Leben ebenso kunstvoll wie listig. Wo Gott es versäumt, ihn gut aussehen zu lassen, da hilft er Gott.
Der spät Avancierte weiß sich geschätzt vom Habsburger Kaiser Karl und von Heinrich VIII., dem zweiten Tudor auf dem englischen Thron. Beide Herrscher erlebten den Superpädagogen zuerst in einer Lehrer-Schüler-Relation. „Universitäten streiten um die Ehre, (Erasmus) einen Lehrstuhl zu verleihen, drei Päpste schreiben ihm ehrfürchtige Briefe.“
Erasmus bindet sich nicht.
Warum lässt sich die Personifizierung einer allgemeinen Erweckungssehnsucht nicht auf hohem Niveau aushalten? Ich glaube, Erasmus weiß selbst nicht, weshalb er bei all den einmaligen Angeboten reserviert bleibt. Als Vorreiter verkennt er vielleicht seine eigene Verfassung. Gewiss leitet er sich und seine Bedürfnisse vom Überkommenen ab. Das Zukünftige in seinem Portfolio könnte ihm selbst dunkel bleiben.
Die Titel seines Werks überschreiben eine Zeitenwende. Gerade residiert er in Basel. Die Druckerstadt ist ein Hotspot des Humanismus. Hier treten Personen auf, die ihrem volkstümlichen Namen ein Klassikerkleid verpasst haben. Ihrer Muttersprache messen sie eine geringe Bedeutung zu. Latein besiegelt ihr Selbstverständnis. Ihre Bücher und Briefe schreiben sie in der Sprache ihrer Vorbilder. Die elitär-idealistischen Neuerer formieren sich im Schatten „des sterbenden Rittertums, das mit Kaiser Maximilian ins Grab gesunken“. An allen europäischen Höfen präsent, zählen sie zu einem „geistigen Orden“. Erasmus und seine Adepten antizipieren Antonio Gramsci: „Die Eroberung der kulturellen Macht erfolgt vor der Übernahme der politischen Macht. Diese wird durch eine konzertierte Aktion intellektueller ‚organischer‘ Aufrufe erreicht. Sie infiltrieren jegliche Kommunikation, jede Ausdrucksform und die akademischen Medien.“
Doch erliegen sie bald, so Zweig, der volksrevolutionären Handfestigkeit „eines Luther, eines Zwingli“.
„Der organische Grundfehler des Humanismus war, dass er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen … Denn dies war die tiefste Tragik des Humanismus und die Ursache seines raschen Niederganges: seine Ideen waren groß, aber nicht die Menschen, die sie verkündeten. Ein kleines Gran Lächerlichkeit haftet diesen Stubenidealisten wie immer den bloß akademischen Weltverbesserern an, dürre Seelen sie alle.“ Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Erasmus von Rotterdam, »der erste bewußte Europäer, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals«, wurde durch seine Kritik an Theologie und Kirche zum Wegbereiter der Reformation. Doch als Kurfürst Friedrich ihn im Glaubensstreit zwischen Luther und dem Papst um sein Votum bat, scheute der wohl berühmteste und gelehrteste Mensch seiner Zeit die Verantwortung einer Entscheidung. Zweig fasst Triumph und Tragik seines Lebens mit der Sympathie eines Wesensverwandten zusammen: »der freie, der unabhängige Geist, der sich keinem Dogma bindet und für keine Partei entscheiden will, hat nirgends eine Heimstatt auf Erden«.
Zum Autor
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.