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2023-12-16 12:03:35, Jamal

Weiße Pest

„Dutzende Male haben Luther und Erasmus die gleichen Gedanken ausgesprochen, aber was bei Erasmus bloß einen feinen ... Reiz auf die Geistigen ausübt, eben das gleiche wird bei Luther dank seiner mitreißenden Art sofort Parole, Feldruf, plastische Forderung, und diese Forderungen peitscht er so grimmig wie die biblischen Füchse mit ihren Feuerbränden in die Welt, dass sie das Gewissen der ganzen Menschheit entzünden.“ Stefan Zweig, „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“

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Die industriell befeuerten demografischen und geografischen Expansionen der Europäer (nicht erst) im 19. Jahrhundert wirkten sich nicht nur in Afrika und Amerika als „weiße Pest“ (Niall Ferguson) aus.

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„Steige fein aus dem Wagen, und lass dir Haus und Garten aufschließen, vorgebend, du hättest den verstorbenen Eigentümer des anmutigen Landsitzes, den Hofrat Reutlinger, recht gut gekannt.“ E.T.A. Hoffmann, „Das steinerne Herz“

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„Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.“ Heinrich von Kleist, „Die Marquise von O...“

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„Jede neue Zeit muss ihre Erfahrungen im Verhältnis zu … einfachen Erzählweisen wie Catchpenny, Balladen, Moritaten, Laterna-Magica-Bildfolgen, Jahrmarktspanoramen, Guckkastenbilder und Kino testen.“ Alexander Kluge

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„Alles Stehende und Ständische verdampft.“ Karl Marx und Friedrich Engels 1848

Im September 2022 © Jamal Tuschick

Normannischer Ritter

Die Ermordung Atahualpas löst das Inkareich auf. Francisco Pizarro González setzt ein Kind auf den Thron, das bald zu Schaden kommt und für die Farce nicht mehr zur Verfügung steht. Der „Eroberer“ und seine Schergen ziehen eine Blutspur durch Peru. Sie foltern jeden Kaziken, um ganz sicher zu gehen, dass er kein Gold zurückhält. Sie erreichen Euzco „ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen“ (Johannes Blattschneider in seinen Aufzeichnungen „Amerikanische Abenteuer“).

Pizarro lässt Inkagräber öffnen, sprich entweihen. Er gibt Euzco das Gepräge einer spanischen Stadt. Vicente de Valverde verkörpert den Bischof. Er verwandelt die magischen Häuser der Sonnenjungfrauen in Klöster. Spanische Glücksritter eignen sich die Villen der Inka-Aristokratie an und hausen darin mit ihren Pferden. Später zieht die Bande nach Lima um. Die frühe spanische Gründung expandiert in der Konsequenz verkehrstechnischer Entscheidungen und strategischer Überlegungen.

Die Spanier stehen immer kurz vor einem Bürgerkrieg. Es sei schwer, Leute, die dauernd kämpfen, für zivile Lösungen einzunehmen, salbadert der Bischof dem Sinn nach. Ein Delegierter der Cortés-Fraktion kommt mit zweihundertsiebenundzwanzig Reitern und zweihundertzwölf Fußgängern an und will den aktuellen Streitgewinn von Sebastián de Belalcázar einstreichen.  

Der Cortés-Kumpane heißt Diego de Almagro, unser Gewährsmann Bruno Carrera kennt den Veteran aus Mexiko. Das Unvernünftige seines Beginnens einsehend, sucht Alvarado (wenigstens dem Anschein) nach einem Ausgleich mit Belalcázar. Grundsätzlich erscheint den „Eroberern“ Gewalt vernünftig - und gerechtfertigt, da man im Akkord Heiden von der ewigen Verdammnis bewahrt. Der verstockteste Götzendiener bettelt auf dem Scheiterhaufen um Erdrosslung. Für den gnädigen Tod muss allerdings etwas getan werden. Nach vollzogener Bekehrung wischt sich der Seelenführer den Schweiß von der Stirn. Das war mal wieder knapp, denkt er. Der arme Teufel hing schon halb in der Hölle.

Almagros brennender Ehrgeiz nervt vor allem Pizarro. Der Gouverneur von Neu-Kastilien droht ins Hintertreffen zu geraten, weil sein hyperaktiver Hauptmann ständig aufs Ganze geht.

Almagro träumt von der Weltherrschaft. Er schmiedet ein Bündnis mit einem normannischen Abenteurer von zweifelhaftem Adel. Verlaine trägt den Beinamen Longue Èpée - Langschwert. Er ist der erste Mann auf dem Mond Amerika, der zwei Schwerter nach dem Bushido (Samurai-Kodex) führt.

Was aber schmälert seine Herkunft?

Führende Wikinger, die sich vor dem Jahr Tausend in Westeuropa festgesetzt hatten, da zu Christen und Grafen geworden waren, durften sich ihrer Verpflichtung zur Polygynie noch lange nicht entledigen. „Nach dänischer Sitte“ (more danico) waren Söhne aus Friedelschaften den Söhnen der für die Fortsetzung der Dynastie wichtigsten Frau gleichgestellt. - Und auch wieder nicht. Siehe den als „Guillaume le Bâtard“ verrufenen Big Game Changer Wilhelm der Eroberer.  

Verlaine kennt Japan im Jahr 1535! Der erste verbriefte Kontakt zwischen Japaner:innen und Barbaren findet 1543 statt. Japaner:innen unterscheiden die Barbaren (Europäer) zunächst nur nach Himmelsrichtungen. Die Portugiesen, die von Magellans Entdeckung der Estreito de Todos los Santos (Allerheiligenstraße) an einer Südspitze profitieren, sind „Südbarbaren“ und werden keine hundert Jahre später aus dem Land gejagt.

Wie Verlaine als erster Barbar Japan erreichte, ist eine Geschichte für sich.

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Der unter anderem von Erasmus von Rotterdam erzogene Kaiser Karl V. separiert die Streithähne auf den Misthaufen der überseeischen Vizekönigreiche. Pizarro soll weiter Neu-Kastilien ausbeuten, und Almagro Neu-Toledo plündern.

„Die alten Waffenbrüder“ schreibt Blattschneider „nahmen sich kein Vorbild am guten Willen ihres Herrn. Sie wollten wohl im Zwist sterben.“

Jedenfalls lassen sie keine Einigkeit zu, als der Grenzverlauf zwischen den Territorien festgelegt werden soll.

Pizarro beansprucht Cuzco als Hauptstadt für sich. Er hat Staaten in den Staub getreten und ein Jahrhundert in die Schranken gewiesen. Ihn kann kein Mensch beeindrucken.  

In der Nacht vom 8. auf den 9. April 1537 überrumpelt Almagro mit seinen Leuten die Pizarro-Brüder Gonzalo und Fernando in einem Gewölbekeller des Reuerinnenklosters. Almagro glaubt, mit einem Handstreich den Streit entschieden zu haben. Er irrt sich nicht zum ersten Mal. Dazu bald mehr.