MenuMENU

zurück

2023-12-22 11:43:32, Jamal

Spielball europäischer Kräfte

Überall wo Hingabe gefordert wird und volle Verpflichtung, zieht sich Erasmus von Rotterdam zurück in sein kaltes Schneckenhaus der Unparteilichkeit, für keine Idee der Welt und für keine Überzeugung hätte er jemals sich bereitgefunden, als Blutzeuge das Haupt auf den Block zu legen.“ Stefan Zweig über Erasmus von Rotterdam

*

Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier.

*

Stefan Zweig deutet Martin Luther als Spielball europäischer Kräfte. Zweig hält es für möglich, dass der Wittenberger Theologieprofessor kaum begriff, wie er ergriffen und zum „Rammbock der deutschen nationalen Sache“ gemacht wurde. Plötzlich war Luther „ein wichtiger Stein im politischen Schachspiel zwischen Papst, Kaiser und den deutschen Fürsten“.    

*

„Erasmus ist zum Kämpfer nicht geboren, schon weil er im letzten Sinne keine starre Überzeugung hat, für die er kämpft; objektive Naturen besitzen wenig Sicherheit.“ Stefan Zweig

Im Allgäu 2022 © Jamal Tuschick

Marode Pfahlbauten

Erst verliert Cornelius Kammschneider sein Pferd und dann seinen Stiefelknecht Alfonso Gramci in einem entlegenen Winkel des Oriente von Ecuador. Das ist eine trostlose Gegend. Glücklose Goldgräber vegetieren in aufgegebenen Stollen. Manche sind wilder als „die Wilden“. Vereinzelt erinnern Avocado- und Zimtbäume an Plantagen, die im Goldfieber aufgegeben wurden. Ein Fluss rauscht wie ein Siegeszug durch die versehrte Landschaft.

Einigermaßen desolat erreicht Kammschneider marode Pfahlbauten. Kloster, Kirche, Zuckerrohr. Der hessische Protestant ist so erschöpft, dass ihm sogar eine katholische Gesellschaft gelegen kommt. In der 1843 erschienenen Autobiografie „Amerikanische Abenteuer“ memoriert Kammschneider:  

„Kinder bestaunten mich, ich vermisste eine oft beobachtete Scheu vor Weißen.“

Um nicht für Irritationen zu sorgen, besucht Blattschneider die Messe.

„In der ersten Reihe saß der Kazike mit seinem Feldwebel. Beide waren von Kopf bis Fuß gemustert. Die Jesuiten erachteten den Kaziken als Beamten, der ihrem Belieben unterstand. Dieser Bedeutungsarmut stand ein extrem hohes Ansehen im Stamm entgegen. Der Kazike konnte jederzeit und ohne Diskussion einen Angriff auf die Missionsstation veranlassen. Die Missionare hatten es nach ihren Begriffen mit einem unberechenbaren Kind zu tun, dem sie seine Verfügbarkeit gern deutlicher vor Augen führen wollten, als die Umstände es ratsam erscheinen ließen.

Nach der Andacht stürzten die ‚getauften Wilden‘ in den Wald, ohne dass ein Grund für die Eile erkennbar wäre.“

*  

Der Jesuit Jorge Salamanca führt Kammschneider in die Asservatenkammer. Da lagert der Kriegsschmuck von Bekehrten. Es ist bald ein halbes Jahrhundert her, dass die letzten Einheimischen in einem Ornat aus Eidechsenhaut und Kaninchenfell unterwegs waren.

„Die Wilden bleiben große Kinder in allem“, verkündet Salamanca.

Kammschneider nimmt eine frische Arbeit näher in Augenschein. Die Sache unterscheidet sich unheimlich von älteren Beispielen archaischen Kunstgewerbes.

„Sind das die Zähne eines Menschen?“ fragt Kammschneider.

„Einige darf man wohl dafür halten“, erwidert der Experte.

„Es ist nämlich so, dass ich meinen Burschen verloren habe in der Wildnis. Er ist mir einfach abhandengekommen.“

„Das passiert so selten nicht“, erklärt Salamanca zu Kammschneiders Beruhigung. Er bittet den Gast, ihn zu begleiten. Es könnte ihn belustigen, die Angelegenheit aufzuklären. Dazu bald mehr.

*

Bald ist Kammschneider wieder obenauf. Er zieht weiter und trifft Einheimische, die wieder ganz anders sind als die Betbrüder und -schwestern in der Urwaldstation.

„Alles zeugt von Ungestüm und einer Liebe zum Streit, die Haltung, der Schritt, die Lanze, die sie nie aus der Hand geben und im Gespräch schwingen oder auf den Boden stoßen.“

Angeblich sind diese Leute so aufgekratzt wegen „ewiger Nachstellungen der Jibaro, einem Volk von Kopfjägern“.

Kammschneider sieht Krieger, die mit Regenschirmen und Krawatten bewaffnet sind. Dem Zivilisationskram schreiben sie Zauberkraft zu.

Kammschneider: „Die Hütte des Salasaka-I…s ist typischerweise ganz zur Verteidigung eingerichtet. Neben dem Lager stehen Lanzen, mit giftigen Pfeilen gut gefüllte Köcher, und Sarbacane (Blasrohre), deren Mundstücke ebenso zu Klarinetten gehören könnten. Der Salaska lebt im Entsetzen vor dem Jibaro. Der Jibaro mordet, um zu morden. Findet er keinen Christen, fällt er die eigenen Leute an. Ist sonst niemand da, nimmt er eine seiner Frauen, um den Blutdurst zu stillen. Seine Familie ist eine Pflanzschule sämtlicher Laster … in dieser verpesteten Atmosphäre wird ein Heranwachsender zwangsläufig zum Zeugen jeder Gemeinheit. Er lernt die Mutter zu verachten … Von der Arbeit kommt der Vater mit den Schädeln Erschlagener. Sofort kehrt wahnsinnige Freude in der Hütte ein, die Gattinnen stürzen zu den Trophäen, um sie anzuspucken. In die Verhöhnung steigern sie sich hinein, bis sie ganz von Sinnen sind und auseinandergetrieben werden müssen, da sie sich sonst gegenseitig verletzen. Mit dem Veitstanz versuchen sie ihrem Versorger zu gefallen und unter den Konkurrentinnen hervorzustechen.

Sie häuten ihre Feinde und nutzen die Häute für Handtaschen, Tabakbeutel und Muschelgeldbörsen. Über Krieg und Frieden entscheidet die Wahrsagung eines halluzinierenden Schamanen. Was er in seinem Fieber sieht, das nimmt der Stamm für bare Münze.“

Kammschneider findet von Wurzeln in die Luft gehobene Ruinen, die auf Städte eines namenlosen Volkes verweisen. Lange vor den Inkas kolonialisierte es den Urwald. Blattschneider hält die Jibaro für „degenerierte Nachkommen“ der Bauherren.

Erst als er sich in Sicherheit weiß, gesteht sich Kammschneider ein, wochenlang auf der Flucht gewesen zu sein. Morgen mehr.