Epochaler Rang
Erasmus von Rotterdam legte die Lunte an alte Kirchengewissheiten. Andere wären für geringere Überschreitungen als Ketzer verbrannt worden. Erasmus narrte nicht nur die Inquisition, er avancierte auch zu einer europäischen Institution. Im Zenit seines Ruhms bestritt niemand seinen epochalen Rang. Trotzdem blieb ihm der Abstieg nicht erspart.
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„Wenn es menschlich ist, zu irren, warum sollten wir einen Menschen unglücklich nennen, weil er irrt, wenn er so geboren wurde, so gemacht wurde und im Allgemeinen so bestimmt ist.“ Johan Huizinga
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„Die Nachwelt wird es nicht fassen können, dass wir abermals in solchen dichten Finsternissen leben mussten, nachdem es schon einmal Licht geworden war.“ Sebastian Castellio in „Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens“
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„Der Umgang mit Büchern führt zum Wahnsinn.“ Erasmus von Rotterdam
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„Was für ein Leben ich habe. Die Allerhöchsten der Welt fürchten sich vor mir; die Allergeringsten der Welt spucken nach mir, scheißen auf mich und pissen mich an.“ Erasmus von Rotterdam an Thomas Morus, nach Sandra Langereis
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„Wer den Kern sucht, muss die Schale brechen.“ Erasmus von Rotterdam
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„Im Lateinischen war (Erasmus) … ein zweites Mal geboren worden. Das war die einzige wahre Sprache für Menschen, die sich für ein Schriftstellerleben entschieden.“ Sandra Langereis
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„Zum Teufel mit den Zechkumpanen mit gutem Gedächtnis.“ Aus der Sprichwörterbuch Adagia; zitiert nach Sandra Langereis, die in ihrer Erasmusbiografie die mehr als dreitausend Redensarten kompilierende Zitatensammlung als „europäisches Ereignis“ feiert.
Spielball europäischer Kräfte
Als Macht und Bildung nach nicht zusammengehörten, hatte es die Bildung leicht, in die Nähe der Macht zu kommen, da sich die Macht von der Bildung nicht in Frage gestellt wähnte. Die Bildung nutzte der Macht, ohne Macht zu erlangen. Ihre Akteure dienten als Redenschreiber und Hofnarren. Das beschreibt die Krux des Humanismus. Die Humanisten hielten sich für eine Kraft zwischen den Polen Restauration und Reformation. Erasmus lieferte mit seiner Existenz das schönste Beispiel für ein Dilemma. Hätte er sich offensiv gegen Luther gewandt, wäre er Bischof geworden. Wäre er mit Luther marschiert, hielten wir ihn heute für den größten Protestanten.
Bei Luther endete die Versöhnlichkeit. Jene, die eine Kirchenreform ohne Schisma für möglich hielten, verloren ihre Stimmen an die Schreier der Reformation und deren Gegner.
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„Ich habe eine flinke Hand und ein rasches Erinnerungsvermögen. Wenn ich schreibe, fallen mir die Worte von selbst ein. Ich brauche mich nicht anzustrengen und nicht über meinen Stoff zu grübeln.“ Martin Luther; zitiert nach Sandra Langereis
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„Erasmus emanzipierte die Bibelleser, indem er sie gegen die Wörter wappnete … Luther machte die Bibelleser den Wörtern gegenüber wieder fügsam.“ Sandra Langereis
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Stefan Zweig deutet Luther als Spielball europäischer Kräfte. Zweig hält es für möglich, dass Luther kaum begriff, wie er ergriffen und zum „Rammbock der deutschen nationalen Sache“ gemacht wurde. Plötzlich war der Wittenberger Theologieprofessor „ein wichtiger Stein im politischen Schachspiel zwischen Papst, Kaiser und den deutschen Fürsten“.
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„Im Januar 1521 verhängt Papst Leo X. den Kirchenbann über Luther. Normalerweise folgte darauf die Reichsacht. Aber die Reichsfürsten und Stände setzten bei Kaiser Karl V. ein Verhör Luthers auf dem Wormser Reichstag durch. Karl sicherte freies Geleit zu. Am 17. und 18. April 1521 fand das Verhör im Bischofshof statt. Luther weigerte sich zu widerrufen. Tags drauf kündigte der Kaiser die Reichsacht an, die am 8. Mai erlassen wurde (Wormser Edikt).“ Stadt Worms, Quelle
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„(Erasmus‘) Werke … zeigen, dass … Eitelkeit u. Furchtsamkeit des Gelehrten mehr als der Mangel an religiöser Überzeugung ihn zuerst zu einem Beförderer der Reformation u. später zum unthätigen (Originalschreibweise) Gegner derselben machten, nachdem die Zeit vorüber war, wo man auf beiden Achseln Wasser tragen konnte.“ Herders Conversations-Lexikon aus dem Jahr 1854, Quelle
Atmende Biografie
Erasmus Desiderius (ca. 1466 in Rotterdam - 1536 in Basel) wächst in Gouda auf. Als unehelicher Sohn eines Priesters und dessen Haushälterin entbehrt er die zunfttaugliche Ehrbarkeit in einem burgundischen Winkel des Heiligen Römischen Reichs. Die sozialen Aussichten des zukünftigen Fürstenerziehers sind erst einmal lausig.
Den Langobarden-Königsnamen Desiderius, eine Ableitung von desiderare - begehren, legt sich Erasmus später selbst zu. Seinen Vater ziert eine gute Handschrift. Roger Gerard zählt zu den weltläufigen Geistlichen. Der Verehrer des als Märtyrer heiliggesprochenen Erasmus von Antiochia blickt auf eine Karriere in Italien zurück. Im Auftrag des Abts von Monastero di San Benedetto (heute St. Benedikt), einem Kloster nahe Fabriano, kopierte er „zwei Schlüsseltexte des Christentums“, namentlich Augustinus‘ „Vom Gottesstaat“ und Thomas von Aquins „Summa theologica“.
Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-
Die Abtei steht auf dem „Apennin-Gipfel des Monte Fano“. 1276 wurde in Fabriano die erste Papiermühle auf europäischem Boden in Betrieb genommen. Zu Gerards Lebzeiten floriert die Papierindustrie. Langereis spricht von einem „hocheffizienten Recyclingverfahren“, bei dem Leinenlumpen und abgetakelte Segelfetzen in ihren „Rohstoff zurückverwandelt (werden)“. Sie beschreibt einen Hotspot der Renaissance-Tüchtigkeit. Klöster betreiben die Mühlen mit Pächter:innen. In den Skriptorien sowie an anderen kirchenstaatlichen Stellen tobt ein Kampf der restaurativen Pergamentfraktion gegen die neumodischen Freund:innen des Papiers.
Orthografische Nonchalance
Die Autorin belegt Gerards schriftstellerische Tätigkeit mit spät erschlossenen Quellen. Der gebürtige Rotterdamer versah seine Arbeit mit Herkunftshinweisen. Einmal bezeichnet er sich als „Germane aus der holländischen Provinz“. Seinen Taufnamen überliefert er in diversen Versionen. Die freihändige Schreibweise „zeugt von einer orthografischen (im 15. Jahrhundert verbreiteten) Nonchalance“.
Um die Deklassierung in Grenzen zu halten, tritt Erasmus (so wie sein Bruder Pieter) als Waise auf. Ein Onkel, Schulmeister von Beruf, wird zum Vormund bestellt. Die Brüder genießen eine höhere Schulbildung, zunächst in der Obhut des Oheims. Schließlich erhalten sie die Priesterweihe.
Langereis erzählt das Leben ihres Helden mit lauter burlesken Schwenks, Schlenkern und Perspektivwechseln. Ich fühle mich eingeladen, an eine andere Berühmtheit aus Gouda zu erinnern. Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Eurostars Erasmus entreißt Cornelis de Houtman (1565 - 1599) den Portugies:innen das ostindische Pfeffermonopol und macht Bantam auf Java zum ersten niederländischen Stützpunkt in Indonesien. Im Gefecht verliert er zwei Schiffe und fast alle Matrosen. Eine Bucht heißt seitdem „Friedhof der Holländer“.
Protestantische Unternehmungslust/Evangelischer Optimismus
Langereis beginnt ihre Biografie mit der Schilderung einer Expedition, die 1598 im Hafen von Goeree-Overflakkee ihren Anfang nimmt. Die Autorin beschwört den „protestantische(n) Unternehmergeist (und) evangelische(n) Optimismus“ der Rotterdamer Kaufleute Pieter van der Hagen (einem Sklavenhändler) und Johan van der Veeken. Sie vertrauen ihre Investitionen Admiral Jacques Mahu (1564 - 1598) an.
Am 27. Juni 1598 sticht Mahu mit fünf Schiffen und knapp fünfhundert Mann Besatzung in See. Das ist der Auftakt eines einzigen Desasters. Mahu fährt auf der in „De Liefde“ umgetauften „Erasmus“. Langereis reicht die Referenz für einen langen Riemen.
Abschreiben als Gottesdienst
Das bibelfeste Latein und die gotische Handschrift sind Insignien eines besonderen Gottesdienstes. Jahrhundertelang entstehen in den Skriptorien der Klöster Abschriften bedeutender Werke der Christenheit in einer bis auf den letzten Punkt kodifizierten Praxis. Die Kopisten verrichten Frondienste des Geistes.
„Drei Finger schreiben, der ganze Körper schuftet.“
Unter dem Druck des Buchdrucks transformiert sich die mittelalterliche Überlieferungskultur. Verbesserte Verfahren zur Papierherstellung verdrängen das Pergament und erhöhen die Reichweiten von Bildungsgütern.
In diesem Spannungsfeld wächst Erasmus als unehelicher Priestersohn in „einer Umgebung mit Büchern“ auf. Sein Vater sorgt für die frühestmögliche Alphabetisierung des illegitimen Nachwuchses in einer Gesellschaft ohne Schulzwang. Unterrichtet wird Erasmus zunächst in der allgemein vernachlässigten Muttersprache. Orthografie und Grammatik unterliegen keiner Formalisierung. Die Verschriftlichung des Holländischen beschränkt sich vielfältig auf Zunftangelegenheiten. Vor allem geht es um die Lesefähigkeit künftiger Handwerker. Die Verfassung des Gehobenen verbietet eine Verwendung von Werkzeugen, die auch dem Plebs zur Verfügung stehen. Entsprechend ungezwungen holzen die kleinen Leute. Auch an die Unterrichtenden werden geringe Anforderungen gestellt.
„Eigentlich habe (Erasmus) erst wirklich lesen und schreiben gelernt, als er mit Latein angefangen habe.“
Für Erasmus bleibt Holländisch „eine Sprache für kleine Kinder … Im Lateinischen … (wird) er ein zweites Mal geboren“. „Das Einüben einer gleichmäßigen Schrift“ steht zunächst im Vordergrund. Da gelingt Erasmus wenig. Seine Sauklaue gibt ihm mitunter selbst Rätsel auf.
Der Schüler befreit sich aus „intellektueller Knechtschaft“. Er orientiert sich zumal an karolinischen Adaptionen der antiken Schriftformen, die zu „stilistischer Klarheit“ erziehen.
Ökonomische Buchschrift
Langereis spricht von zwei mittelalterlichen Renaissancen: der karolingischen im 8. und einer, die dreihundert Jahre später in den Domschulen stattfindet. Erasmus bezieht sich auf die Nachahmer griechischer Vorbilder sowie auf die antiken Originale, während seine Zeitgenoss:innen einem gotisch-komprimierten, platzsparenden Format den Vorzug geben. Langereis erklärt den vor 1500 aktuellen Trend zur „ökonomischen Buchschrift“ mit rasant gestiegenen Pergamentpreisen. Papiermanufakturelle Fortschritte entspannen die Lage an der Buchstabenfront. Sie ziehen die gotische Schrift aus dem Verkehr. Das Pfund, mit dem der Vater des Genies als Kopist einst wucherte, verliert seine Bedeutung an zwei Innovationen.
Weltliche Spielräume
Ist es statthaft, Stefan Zweigs Anverwandlung „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ einzuordnen als kongeniale Vorzeichnung der atmenden Biografie von Sandra Langereis? Zweig schildert seinen Helden als „übernationales“ Genie. Er assoziiert mit dem Weltmann die Heimatlosigkeit einer - nach den Margen der Erasmus-Epoche - unordentlichen Herkunft.
„Erasmus hat keine Heimat, kein richtiges Elternhaus, er ist gewissermaßen im luftleeren Raum geboren.“
Erasmus setzt seinen Taufnamen zwischen zwei angenommene, jedenfalls nicht ererbte Namen. Er verschmäht die Sprache seiner Ahnen und gibt Latein den Vorzug.
Zweig spricht von einer planvollen „Verschattung“ der unehelichen, folglich delegitimierenden Abstammung. „Ärgerlich“ sei es gewesen, von einem Priester gezeugt worden zu sein. Der Autor unterstellt Erasmus die Geburtsnot eines unerwünschten Kindes. Erasmus dementiert sein Schicksal, indem er sich zum Desiderius erklärt. 1487 tritt er in den Augustinerorden ein, ein Jahr später legt er das Gelübde ab. Ohne besondere Frömmigkeit frönt er seinen künstlerischen Neigungen. 1492 weiht ihn der Bischof von Utrecht zum Priester.
Der „freidenkende und unbefangen schreibende“ Erasmus bleibt Priester, wenn auch mit weltlichen Spielräumen. Er erlangt Dispens, wo immer ihn der Priesterschuh drückt. Zweig erkennt einen „inneren Unabhängigkeitszwang“.
Er schildert die epochale Gestalt als geschickten Taktiker. Erasmus scheut Streit und revolutionäre Ruppigkeit. „Unnützen Widerstand“ vermeidet er. Lieber „erschleicht (er sich) seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen“.
„Zu vorsichtig, um jemals ein Held zu werden, erreicht er durch seinen klaren, die Schwächen der Menschheit überlegen berechnenden Geist alles, was er für seine Persönlichkeitsentwicklung benötigt.“
Fromme Aversionen
Erasmus kritisiert das „fromme Bibellesen“ im Rahmen blühender Volksfrömmigkeit. Er plädiert für ein Studium der Evangelien „auf der Grundlage humanistischer Kenntnisse“. „(Gut) informierte Gläubige (seien) bessere Christen.“ Seine Ansichten provozieren den Widerspruch jener, die Lektüre mit Gebet gleichsetzen. Sie singen das Loblied von Demut und Askese. Sie geißeln die „eitle Sucht nach sterilem Wissen“. Mit aversiver Frömmigkeit versichern sie sich gegen die Hybris selbstermächtigter Renaissance-Rebell:innen, die mit ihrem irdischen Dasein erfreuliche Erwartungen verbinden.
Erasmus verbringt Jahre in einem „Zuchthaus des Geistes“ (Stefan Zweig). Die Zuchtmeister erachten die „Zähmung“ von Knaben als ihre vornehmste Aufgabe. Institutionalisierte Gewalt bewirkt, dass Novizen den Glauben nicht verinnerlichen, sondern im dumpfen Aberglauben Zuflucht suchen.
Er fintiert. Dem Kloster entkommt Erasmus zuerst als Sekretär des Bischofs von Cambrai. Bald benötigt Heinrich von Glymes und Berghes den gebildeten Mönch nicht mehr. Gekonnt drückt sich Erasmus vor der Wiedereingliederung in den klösterlichen Betrieb. Für geistige Selbständigkeit gibt es noch keinen Rahmen in der ständischen, von Abgrenzungen bestimmten Ordnung. Alles und alle stellen sich der Permissivität entgegen.
Poetischer Geniebeweis
Erasmus bleibt nur die Wahl zwischen Fürsten- und Gottesdiener. Er strebt nach weichen Lösungen. „Im Schatten der Macht“ überlebt er, ohne je seine Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen. Stattdessen hangelt er sich von einer Brotstelle zur nächsten: in einer singulär-vormodern nomadischen Existenz.
In England atmet Erasmus zum ersten Mal die Luft der Freiheit. „Da zählt (niemand) seine Messen und Gebete nach.“ In einem Moment des Friedens blüht die angelsächsische Gesellschaft auf. Der Gelehrte unterrichtet Bill Blount (ca. 1478 - 1534). Der vierte Baron Mountjoy avanciert zum königlichen Berater. Schließlich wirkt er als Patron des bedürftigen Geistesriesen Erasmus.
Der Baron popularisiert sein Idol im Kreis der englischen Elite. High Potentials wie Lordkanzler Thomas Morus bewerben sich um die Freundschaft des Fremden. Ein Gemälde bezeugt eine historische (in Greenwich lokalisierte) Szene an der Schwelle zum 16. Jahrhundert. Das Interieur bezeugt royale Prachtentfaltung. Zu den dargestellten Personen zählt Erasmus. Er beobachtet, wie Morus einem Kind huldvoll eine Papierrolle präsentiert. Bei dem Empfänger handelt es sich um den künftigen Heinrich VIII. Der königliche Knabe wünscht sich von Erasmus einen poetischen Geniebeweis. Der Fürstenflüsterer (siehe Die Erziehung des Christlichen Fürsten) erfüllt die in ihn gesetzte Erwartung im Geiste einer freihändigen Karriereplanung. Für den Lebensentwurf eines freien Autors fehlt die Blaupause.
In der Spanne von 1500 bis 1506 pendelt Erasmus zwischen den Niederlanden, Frankreich und England. Einen Ruf der Universität Löwen überhört er.
„Obgleich er nie an der Universität Löwen studierte oder lehrte, weilte er 1517 einige Monate in Löwen und half, das Collegium Trilingue zu gründen.“ Quelle
1506 wird er in Turin zum Doktor der Theologie promoviert. Drei Jahre später erhebt ihn Kaiser Maximilian I. zum Reichsfreiherrn.
Nun erst erscheint der polyglotte Kosmopolit als Erasmus von Rotterdam. Als Nobilitierter erhält er geregelten Zugang zu europäischen Höfen. Erasmus avanciert zum Erzieher des künftigen Kaisers Karl V. Im Kampf gegen die Reformation spielt der Habsburger die führende Rolle.
Verdammtes Kind
Erasmus erklärt sich standesrechtlich zu einer Person, die er nicht ist. Er behauptet, als Sohn eines Priesters zwar geboren, nicht aber gezeugt worden zu sein. Im Vertrauen auf eine zügige Eheschließung habe sein Vater als Ungeweihter eine Jugendliebe geschwängert.
Die Wahrheit sieht anders aus. Erasmus stammt nicht nur aus der unehelichen Verbindung eines Priesters, und gilt deshalb nach den Leitlinien seiner Epoche als „verdammtes Kind“, er hat auch einen älteren Bruder, den er bei jeder Gelegenheit unterschlägt.
Langereis erörtert die Verlässlichkeit autobiografischer Einlassungen. Die Biografin weiß: „Ein Schriftsteller, der seine Autobiografie verfasst, beschreibt sich nicht, er erfindet sich.“
Erasmus legt sich seine Herkunft zurecht. Was sich unter den Teppich kehren lässt, verschwindet. Langereis verweist darauf, dass „das Eheverbot für Priester erst relativ spät in das Kirchenrecht aufgenommen (wurde)“.
Keine Kirchenspaltung
1514 lässt sich Erasmus in Basel nieder; in erster Linie wegen der europaweit renommierten Druckereien. Akademisch antizipiert Erasmus die Leitlinien der Reformation. Er formuliert protestantische Sprengsätze. Er schwingt den evangelischen Besen, nicht zuletzt als Gegner des Ablasshandels. Doch will der Evolutionär partout keine Kirchenspaltung. Martin Luther begegnet Erasmus auf der historischen Bühne als furioser Gegenspieler.
Lassen Sie mich noch einmal kurz auf Stefan Zweig zurückkommen. Er sieht einen „dämonisch Getriebenen dumpfer deutscher Volksgewalten. Mit einem Schlage zertrümmert Doctor Martins eiserne Bauernfaust, was die feine, bloß mit der Feder bewehrte Hand des Erasmus zaghaft zärtlich zu binden sich bemühte“.
„Weil Erasmus zu keiner Partei will, zerfällt er mit beiden, ‚den Guelfen gelte ich als Ghibelline und den Ghibellinen als Guelfe‘. Einen schweren Fluch spricht Luther, der Protestant, über seinen Namen aus, die katholische Kirche wiederum setzt alle seine Bücher auf den Index.“
Erasmus fühlt sich von einem „Weltsturm“ erfasst. Der pietistische Furor erscheint ihm als Unglück. Er fürchtet den Ausgang der Luthersache. 1529 erreichen die Stürmer und Dränger Basel. Sie toben sich im Münster aus. Erasmus flieht nach Freiburg im Breisgau. Ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1536 kehrt er nach Basel zurück.
Aus der Ankündigung
Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre. Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.
Zur Autorin
Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.