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2023-12-24 16:43:25, Jamal

Untätiger Gegner

„Die Eltern sterben früh, und begreiflicherweise zeigen die Verwandten größte Eile, den … (Illegitimen) möglichst kostenlos von sich wegzuhalten; glücklicherweise ist die Kirche immer geneigt, einen begabten Knaben an sich zu ziehen. Mit neun Jahren wird der kleine Desiderius (in Wahrheit: ein Unerwünschter) in die Kapitelschule von Deventer geschickt.“ Stefan Zweig, „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“

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„Die Geschichte aber ist ungerecht gegen die Besiegten. Sie liebt nicht sehr die Menschen des Maßes, die Vermittelnden und Versöhnenden, die Menschen der Menschlichkeit. Die Leidenschaftlichen sind ihre Lieblinge, die Maßlosen, die wilden Abenteurer des Geistes und der Tat.“  Stefan Zweig über Erasmus von Rotterdam

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„Der Übergang des fünfzehnten in das sechzehnte Jahrhundert ist eine Schicksalsstunde Europas und in ihrer dramatischen Gedrängtheit nur der unseren vergleichbar.“ Stefan Zweig

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„Der Grundton des Enchiridion militis Christiani ist bereits das, was der Grundton des Werkes von Erasmus immer sein wird: der Mann, der es nicht ertragen kann, dass der Schein so verschieden ist von der Substanz der Welt, dass die Welt diejenigen wertschätzt, die sie nicht wertschätzen sollte, dass Blindheit, Alltagssorgen und Gedankenlosigkeit die Menschen daran hindern, den wahren Zusammenhang der Dinge zu sehen.“ Johan Huizinga

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„Im Lateinischen war (Erasmus) … ein zweites Mal geboren worden. Das war die einzige wahre Sprache für Menschen, die sich für ein Schriftstellerleben entschieden.“ Sandra Langereis

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„Ein Schriftsteller, der seine Autobiografie verfasst, beschreibt sich nicht, er erfindet sich.“ Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“

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„Seine Person, seine bloße Nähe scheint mir bildend zu sein, selbst wenn er kein Wort sagte.“ Eckermann über Goethe

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„Alles Wirre widerte (Erasmus) an, alles verworren Mystische und verstiegen Metaphysische stieß ihn organisch ab; wie Goethe hasste er nichts so sehr wie das Nebulose.“ Stefan Zweig

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„Selbstverständlich musste Luther … das Laue und Unentschiedene in Glaubensdingen an Erasmus hassen, dies Sich-nicht-entscheiden-Wollen, das Glatte, Nachgiebige, Glitschige einer Überzeugung, die niemals eindeutig festzulegen war, und gerade das ästhetisch Vollkommene, die ‚künstliche Rede‘ statt des klaren Bekennens erregte seine Galle.“ Stefan Zweig

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„Für den ekstatischen Mönch Luther ist jeder seiner Gegenredner schon ein Sendling der Hölle, ein Feind Christi, den auszutilgen Pflicht ist, während dem humanen Erasmus selbst die tollste Übertreibung der Gegner höchstens ein mitleidiges Bedauern abnötigt.“ Stefan Zweig

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Stefan Zweig deutet Luther als Spielball europäischer Kräfte. Zweig hält es für möglich, dass Luther kaum begriff, wie er ergriffen und zum „Rammbock der deutschen nationalen Sache“ gemacht wurde. Plötzlich war der Wittenberger Theologieprofessor „ein wichtiger Stein im politischen Schachspiel zwischen Papst, Kaiser und den deutschen Fürsten“.    

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„Ich versuchte zu erfahren, ob Erasmus von Rotterdam bei jener Partei sei. Aber ein gewisser Kaufmann erwiderte mir: ‚Erasmus est homo pro se‘ (Erasmus steht immer für sich allein). Epistolae obscurorum virorum, 1515, zitiert nach Stefan Zweig 

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In seinem Buch über „Außenseiter“ spricht Hans Mayer über die „Epoche zwischen Erasmus und Shakespeare“.  

 

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„Seine Werke … zeigen, dass … Eitelkeit u. Furchtsamkeit des Gelehrten mehr als der Mangel an religiöser Überzeugung ihn zuerst zu einem Beförderer der Reformation u. später zum unthätigen (Originalschreibweise) Gegner derselben machten, nachdem die Zeit vorüber war, wo man auf beiden Achseln Wasser tragen konnte.“ Herders Conversations-Lexikon, 1854, Quelle

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„Er hat sein Bekenntnis zur Unabhängigkeit, sein nulli concedo, nicht stolz vor sich hergetragen wie eine Monstranz, sondern wie eine Diebslaterne unter dem Mantel versteckt; in Schlupfwinkeln und auf Schleichwegen hat er sich zeitweilig geduckt und gedeckt während der wildesten Zusammenstöße des Massenwahnes.“ Stefan Zweig

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„Erasmus war der Aufklärer seiner Zeit.“ Fritz Büsser

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Zitiert nach Büsser: „Erasmus war der Mann, ‚der zu wenig Vorurteile und etwas zu viel feinen Geschmack hat, der zu verständig und zu gemäßigt ist..., der als feiner ästhetischer, schwebender Geist keine Konsequenzen zu ziehen weiß, der unbedingter Idealist, zugleich aber ein gemäßigter ist‘ (Johan Huizinga).“ Quelle

Weltliche Spielräume

Der als Gerrit Gerritszoon unehelich in Rotterdam zur Welt gekommene, in Gouda aufgewachsene Erasmus entgeht dem Schicksal eines Deklassierten als guter Schüler nicht zuletzt. Er erhält Musikunterricht in Utrecht. In Deventer besucht er eine Lateinschule. Sein erstes Vorbild ist der Frühhumanist Rudolf Agricola. Erasmus schließt sich den Augustiner-Chorherren zu Steyn an. Da empfängt er 1492 die Weihe. Die vorgezeichnete Laufbahn bietet dem jungen Priester kaum lohnende Ziele. Dem seelsorgerischen Trott leiht er nur einmal sein Geschick, vielem gerecht zu werden: als Hirte eines Sprengels in Cambridge. 1509 sticht Erasmus mit einem „Lob der Narrheit“ hervor. Der satirische Rundumschlag entspricht einer mutigen Tat zuzeiten der Inquisition. Mit rhetorischer Raffinesse zieht sich der Spötter aus der Affäre.

In seiner Erasmusiade „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ schildert der Autor die epochale Gestalt als geschickten Taktiker. Erasmus scheut Streit und revolutionäre Ruppigkeit. „Unnützen Widerstand“ vermeidet er. „(Lieber) erschleicht (er sich) seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen.“

Kluge wissen es zu vermeiden, die Konfrontation da anzunehmen, wo sie ihnen angeboten wird.  

„Zu vorsichtig, um jemals ein Held zu werden, erreicht er durch seinen klaren, die Schwächen der Menschheit überlegen berechnenden Geist alles, was er für seine Persönlichkeitsentwicklung benötigt.“

Zuchthaus des Geistes

Er fintiert. Dem Kloster entkommt Erasmus zuerst als Sekretär des Bischofs von Cambrai. Bald benötigt Heinrich von Glymes und Berghes den gebildeten Mönch nicht mehr. Gekonnt drückt sich Erasmus vor der Wiedereingliederung in den klösterlichen Betrieb. Mit einem Stipendium für die Sorbonne verzieht er sich nach Paris. Da gerät er in ein „Zuchthaus des Geistes“, in dem ein impotenter Formalismus als der Weisheit letzter scholastische Schluss gehandelt wird. Der Gepresste entflieht dem „Essigkollegium“ im Tarnmantel einer Krankheit und etabliert sich als Hauslehrer in der französischen Kapitale.

Zweig zeigt auf ein Merkmal des Mittelalters. Für geistige Selbständigkeit gibt es keinen Rahmen in der ständischen, von Abgrenzungen bestimmten Ordnung. Alles und alle stellen sich der Permissivität entgegen.  

„Für den geistigen … Menschen … ist in dieser Weltordnung noch kein Raum vorhanden, denn die Honorare, die späterhin Unabhängigkeit gewähren, sind noch nicht erfunden.“

Poetischer Geniebeweis

Erasmus bleibt nur die Wahl zwischen Fürsten- und Gottesdiener. Er strebt nach weichen Lösungen. „Im Schatten der Macht“ überlebt er, ohne je seine Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen. Stattdessen hangelt er sich von einer Brotstelle zur nächsten: in einer singulär-vormodern nomadischen Existenz.

In England atmet Erasmus zum ersten Mal die Luft der Freiheit. „Da zählt (niemand) seine Messen und Gebete nach.“ In einem Moment des Friedens blüht die angelsächsische Gesellschaft auf. Der Gelehrte unterrichtet Bill Blount (ca. 1478 - 1534). Der vierte Baron Mountjoy avanciert zum königlichen Berater. Schließlich wirkt er als Patron des bedürftigen Geistesriesen Erasmus.

Der Baron popularisiert sein Idol im Kreis der englischen Elite. High Potentials wie Lordkanzler Thomas Morus bewerben sich um die Freundschaft des Fremden. Ein Gemälde bezeugt eine historische (in Greenwich lokalisierte) Szene an der Schwelle zum 16. Jahrhundert. Das Interieur bezeugt royale Prachtentfaltung. Zu den dargestellten Personen zählt Erasmus. Er beobachtet, wie Morus einem Kind huldvoll eine Papierrolle präsentiert. Bei dem Empfänger handelt es sich um den künftigen Heinrich VIII. Der königliche Knabe wünscht sich von Erasmus einen poetischen Geniebeweis. Der Fürstenflüsterer (siehe Die Erziehung des Christlichen Fürsten) erfüllt die in ihn gesetzte Erwartung im Geiste einer freihändigen Karriereplanung. Für den Lebensentwurf eines freien Autors fehlt die Blaupause. In der Spanne von 1500 bis 1506 pendelt Erasmus zwischen den Niederlanden, Frankreich und England. Einen Ruf der Universität Löwen überhört er.

„Obgleich er nie an der Universität Löwen studierte oder lehrte, weilte er 1517 einige Monate in Löwen und half, das Collegium Trilingue zu gründen.“ Quelle 

1506 wird er in Turin zum Doktor der Theologie promoviert. Drei Jahre später erhebt ihn Kaiser Maximilian I. zum Reichsfreiherrn.

Nun erst erscheint der polyglotte Kosmopolit als Erasmus von Rotterdam. Als Nobilitierter erhält er geregelten Zugang zu europäischen Höfen. Erasmus avanciert zum Erzieher des künftigen Kaisers Karl V. Im Kampf gegen die Reformation spielt der Habsburger die führende Rolle.

Geduldiges Genie

Stefan Zweig platziert Erasmus auf einer Traditionslinie mit Goethe. Bei beiden erkennt er eine „harmonische Zusammenfassung … von Sendung und Lebenssinn … im (versöhnlichen) Geiste der Humanität“. Zweig attestiert Erasmus eine „kommunikative Natur“ und kennzeichnet das Wort als Zitat. Allem Tumult abhold sei dem Gründlichkeitsgigant „jeder trübe Massenzank“ unlieb gewesen.

Zweig knüpft seinem Helden einen Tugendkranz im Themenkreis der Versöhnlichkeit.  

Mit seinen Neigungen und Fähigkeiten schafft Erasmus einen Kanon der Selbständigkeit unter widrigen Bedingungen. Er vereint auf sich das Potential eines Philologen, Pädagogen und Poeten. Die Theologie bildet eine Basis, die Spielräume eröffnet. Erasmus gewinnt der Renaissance alles ab; im Gegensatz zu den Bilderstürmern der Reformation. Auf die Großen der Epoche wirkt er stilbildend. Erasmus‘ bevorzugte Sprache, das Latein, nennt Zweig „ein erstes Esperanto des Geistes“. 

Der Biograf stellt seinen Helden an die Spitze einer imaginären Gelehrtenrepublik, die sich einem „panhumanen Ideal“ verschreibt.  Der ursprünglich katholische, dann reformierte Theologe Fritz Büsser (1923 - 2012) spricht von einer „breiten Mittelsphäre der Reformationszeit“ (Quelle). Erasmus repräsentiert diese Sphäre. Seine Ansichten sind europaweit gefragt.

Ihm hören die Mächtigen zu.

Erasmus tritt in den Arenen seiner Ära als sendungsstarker Intellektueller auf. Latein ist seine Verkehrssprache. Sein Biograf Johan Huizinga erklärt:

„Die Volkssprache hätte alles … zu persönlich … für diesen feinen Geist gemacht. Er brauchte den vagen, fernen, leichten Schleier, den das Lateinische um die Dinge (legt).“

Erasmus verbreitet sich auch in über zweitausend Briefen. Huizinga:

„Die Briefgattung, die sich in dieser Zeit entwickelte, war die Zeitung unserer Zeit, oder vielmehr die literarische Zeitschrift, die sich fast direkt aus der gelehrten Korrespondenz entwickelte. Das Briefeschreiben war … eine Kunst. … Briefe wurden in der Regel in der Absicht geschrieben, sie später für ein breiteres Publikum zu veröffentlichen, oder jedenfalls in dem Wissen, dass der Adressat sie anderen zeigen würde.“  

Mit Erasmus identifiziert die geistige Welt einen akademischen Schlachtruf der Neuzeit:

„Vor allem muss man zu den Quellen selbst eilen, das heißt zu den Griechen und den Alten überhaupt.“

Keine Kirchenspaltung

1514 lässt sich Erasmus in Basel nieder; in erster Linie wegen der europaweit renommierten Druckereien. Akademisch antizipiert Erasmus die Leitlinien der Reformation. Er formuliert protestantische Sprengsätze. Er schwingt den evangelischen Besen, nicht zuletzt als Gegner des Ablasshandels. Doch will der „Evolutionär“ partout keine Kirchenspaltung. Martin Luther begegnet Erasmus auf der historischen Bühne als furioser Gegenspieler.

Zweig konturiert Luthers Gestalt gewiss realistischer als viele Weichzeichnerinnen. Der Nachgeborene sieht „den dämonisch Getriebenen dumpfer deutscher Volksgewalten. Mit einem Schlage zertrümmert Doctor Martins eiserne Bauernfaust, was die feine, bloß mit der Feder bewehrte Hand des Erasmus zaghaft zärtlich zu binden sich bemühte“. 

„Weil Erasmus zu keiner Partei will, zerfällt er mit beiden, ‚den Guelfen gelte ich als Ghibelline und den Ghibellinen als Guelfe‘. Einen schweren Fluch spricht Luther, der Protestant, über seinen Namen aus, die katholische Kirche wiederum setzt alle seine Bücher auf den Index.“

Erasmus fühlt sich von einem „Weltsturm“ erfasst. Der pietistische Furor erscheint ihm als „Unglück“. Er fürchtet den Ausgang der „Luthersache“. 1529 erreichen die Stürmer und Dränger Basel. Sie toben sich im Münster aus. Erasmus flieht nach Freiburg im Breisgau. Ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1536 kehrt er nach Basel zurück.

Protestantische Perspektive

Die protestantische Perspektive erschöpft sich nicht in der Deklassierung des maßvollen Gelehrten. Das Ätzende changiert zwischen „Satansjünger (und) Feigling, der seine eigentlich reformatorische Gesinnung nicht zu bekennen wagt“. Doch gibt es solche auch, die nur dem Geschmähten zutrauen, der rechte Reformator zu sein. Siehe Fritz Büsser, Quelle.

Den vom evangelischen Eifer geschundenen Erasmus schildert Zweig als „Besiegten“.  

„Die Geschichte … liebt nicht sehr die Menschen des Maßes, die Vermittelnden und Versöhnenden, die Menschen der Menschlichkeit. Die Leidenschaftlichen sind ihre Lieblinge, die Maßlosen, die wilden Abenteurer des Geistes und der Tat: so hat sie an diesem stillen Diener des Humanen fast verächtlich vorbeigesehen.“

Zweig sieht den von allen Seiten hart angegangenen, gleichsam abgesessenen Vorreiter der Reformation zurückgedrängt in den historischen „Hintergrund“; während sich das Schicksal der Feuerköpfe feurig erfüllt.

„Jan Hus erstickt in der lodernden Flamme, Savonarola am Brandpfahl in Florenz, Miguel Servet* ins Feuer gestoßen von Johannes Calvin, dem Zeloten.“  

Jedem gönnt die Geschichte eine „tragische Stunde“. Das Momentum der Folter adelt den protestantischen Überschreitungsfuror. Thomas Münzer, John Knox, Thomas Morus, John Fisher und Huldrych Zwingli erscheinen „wehrhaft in ihrer gläubigen Wut, ekstatisch in ihrem Leiden“.

Apokalyptische Landschaften 

Für Bertolt Brecht sind die Bauernkriege das größte deutsche Unglück, da sie, so Brecht, zu früh losbrachen. Stefan Zweig malt in seiner Geniedeutung „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ einschlägige Verheerungen aus. In seinem historischen Panorama brennt „die verhängnisvolle Flamme des religiösen Wahnes“. Der Nachgeborene addiert militärisch abgetragene Städte zu militärisch entkernten Höfen in „apokalyptischen Landschaften“.     

Zweig erwähnt den spanischen Arzt Miguel Servet, der vor der Inquisition zuletzt nach Genf floh und da 1553 - auf Geheiß von Johannes Calvin - als Ketzer hingerichtet wurde.

Ausführlich charakterisiert Zweig Servet an anderer Stelle. In „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“ erscheint der doppelt Verfolgte so bedeutend wie ein Korn zwischen Mühlsteinen. In einer „weltanschaulichen Auseinandersetzung“ mit epochalen Dimensionen verliert sich die Persönlichkeit des Gehetzten.

Servets Rolle verdankt sich keiner politisch relevanten Größe. Der Spielball titanischer Kräfte trudelt durch alle Stadien der gesellschaftlichen Belanglosigkeit, bis ihn ein „fürchterliches Ende“ exponiert.  

Zweig konzediert Servet immerhin einen „eigenwilligen Intellekt“; findet ihn jedoch „irrlichternd“ und unfähig, das Hochplateau „schöpferischer Klarheit“ zu erreichen.  

„Einmal allerdings flammt in dem Buch seiner prophetischen Verkündigungen eine wahrhaft wegweisende Beobachtung auf, die medizinische Entdeckung des sogenannten kleinen Blutkreislaufs, aber Servet denkt nicht daran, seinen Fund systematisch auszuwerten und wissenschaftlich zu vertiefen; wie ein einzelnes verfrühtes Wetterleuchten verlischt dieser Genieblitz aus der dunklen Wand seines Jahrhunderts.“

Zweig erkennt in Servet einen anderen Don Quichotte; einen exzentrisch Vereinzelten, bar jeder Selbstkritik; einen Phantasten, der „in blindwütigem Idealismus gegen alle Widerstände der Realität (anrennt)“.

Gärender Geist

„Wer in so schroffer Selbstüberschätzung ständig allein gegen alle steht, muss es sich geradezu zwangsmäßig mit allen verderben.“

Bereits dem adoleszenten Aragonesen brennt der Heimatboden unter den Füßen. Von katholischen Aufsehern gejagt, setzt er sich nach Toulouse ab. Als Sekretär eines Vertrauten von Kaiser Karl V. gelangt er in den Dunstkreis der Macht. Im humanistischen Ornat verfällt er „der zeitpolitischen Leidenschaft für den großen Kirchenstreit“. 

„Sein unruhiger Geist gerät beim Anblick der welthistorischen Polemik zwischen alter und neuer Lehre in Gärung. Wo alles streitet, will er mitstreiten, wo alles die Kirche zu reformieren sucht, mitreformieren, und mit dem Radikalismus der Jugend erachtet der Heißblütige alle bisherigen Lösungen und Loslösungen von der alten Kirche als viel zu lau.“

Die Revolutionäre im Namen eines unbefleckten Evangeliums enttäuschen den Sturmläufer. „Mit der Intransigenz eines Zwanzigjährigen“ will Servet nicht eine Kompromissdelle im Schild der Radikalität. Die Unbedingtheit bricht ihm rasch das Genick.  

Ganz anders, nämlich anti-flamboyant, präsentiert sich Erasmus den streitenden Parteien. Beinah könnte man übersehen, dass er allen Parteien die besten Argumente liefert. Zweig attestiert dem Weltmann „eine gelassene Resignation“.  

Dürre Seelen

Im Zenit seines Ruhms überragt Erasmus die Herausragenden. Jedenfalls behauptet das Stefan Zweig in seiner Erasmusiade „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“. Danach erscheint Erasmus seiner Epoche bedeutender als Dürer, Raffael, Leonardo, Paracelsus und Michelangelo.

„Kein Lob ist für ihn zu groß“, schreibt Zweig. Er verkörpert „das denkbar Beste und denkbar Höchste, wie Melanchthon in seinem … Lobgesang rühmt“. Erasmus kursiert als „doctor universalis“ und „Beschützer der ehrlichen Theologie“. 

Nach den Begriffen seiner Verehrer:innen überschreitet er das menschliche Maß. Nun beginnt „ein Wettlauf … um die Gunst des … Gelehrten“, der bis eben am Stock der Armut ging und als Bettler in Academia nicht zuletzt die Register der Dürftigkeit studierte. Mit Schmeicheleien hatte er sich über Wasser gehalten und seine Not oft beklagt. Dabei zeichnete er die Konturen einer neuen Existenzform vor. Erasmus verkörpert den freien Autor in seiner Urfassung. Es gibt noch kein Verständnis für diese Variante. Es fehlt ein gesellschaftlicher Ort für jene Freiheit, die sich kaum empfinden lässt; die als unklarer Antrieb klandestin wirkt.

Erasmus entzieht sich der Ordnung seiner Zeit. Er weigert sich das Fatum einer illegitimen Herkunft anzuerkennen. Der uneheliche Priestersohn streift das Stigma eines „verdammten Kindes“ ab. Er erfindet sich nach seinen Bedürfnissen. Als Geistesfürst beansprucht er das Prestige einer nobilitierten Herkunft, obwohl er lange nicht mehr ist als ein pflichtvergessener Mönch, der sich mit immer neuen Schlichen um die Klosterklausur herumdrückt und mit angemaßten klerikalen Posen über seine Verhältnisse in Erscheinung tritt. Während die meisten Menschen ihr Schicksal für gottgegeben halten, gestaltet Erasmus sein Leben ebenso kunstvoll wie listig. Wo Gott es versäumt, ihn gut aussehen zu lassen, da hilft er Gott. 

Der spät Avancierte weiß sich geschätzt vom Habsburger Kaiser Karl und von Heinrich VIII., dem zweiten Tudor auf dem englischen Thron. Beide Herrscher erlebten den Superpädagogen zuerst in einer Lehrer-Schüler-Relation. „Universitäten streiten um die Ehre, (Erasmus) einen Lehrstuhl zu verleihen, drei Päpste schreiben ihm ehrfürchtige Briefe.“

Erasmus bindet sich nicht.

Warum lässt sich die Personifizierung einer allgemeinen Erweckungssehnsucht nicht auf hohem Niveau aushalten? Ich glaube, Erasmus weiß selbst nicht, weshalb er bei all den einmaligen Angeboten reserviert bleibt. Als Vorreiter verkennt er vielleicht seine eigene Verfassung. Gewiss leitet er sich und seine Bedürfnisse vom Überkommenen ab. Das Zukünftige in seinem Portfolio könnte ihm selbst dunkel bleiben.

Die Titel seines Werks überschreiben eine Zeitenwende. Gerade residiert er in Basel. Die Druckerstadt ist ein Hotspot des Humanismus. Hier treten Personen auf, die ihrem volkstümlichen Namen ein Klassikerkleid verpasst haben. Ihrer Muttersprache messen sie eine geringe Bedeutung zu. Latein besiegelt ihr Selbstverständnis. Ihre Bücher und Briefe schreiben sie in der Sprache ihrer Vorbilder. Die elitär-idealistischen Neuerer formieren sich im Schatten „des sterbenden Rittertums, das mit Kaiser Maximilian ins Grab gesunken“. An allen europäischen Höfen präsent, zählen sie zu einem „geistigen Orden“. Erasmus und seine Adepten antizipieren Antonio Gramsci: „Die Eroberung der kulturellen Macht erfolgt vor der Übernahme der politischen Macht. Diese wird durch eine konzertierte Aktion intellektueller ‚organischer‘ Aufrufe erreicht. Sie infiltrieren jegliche Kommunikation, jede Ausdrucksform und die akademischen Medien.“

Doch erliegen sie bald, so Zweig, der volksrevolutionären Handfestigkeit „eines Luther, eines Zwingli“.

„Der organische Grundfehler des Humanismus war, dass er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen … Denn dies war die tiefste Tragik des Humanismus und die Ursache seines raschen Niederganges: seine Ideen waren groß, aber nicht die Menschen, die sie verkündeten. Ein kleines Gran Lächerlichkeit haftet diesen Stubenidealisten wie immer den bloß akademischen Weltverbesserern an, dürre Seelen sie alle.“

„Alle Zonen menschlicher Ordnung werden von diesem ungeheuren Stoß erschüttert.“ Das schließt die katholische Kirche ein. Ihre Macht basiert auf erstarrten Formen. Plötzlich verlieren Dogmen ihr Fundament. Der Zeitgeist stellt den Gehorsam der Gläubigen in Frage. Er untergräbt die Autorität der geistlichen Gewalt.

Zweig erinnert daran, wie durchgreifend die Kirche in ihrer besten Verfassung wirkt. „Der Bannstrahl zerbrach das Schwert der Kaiser und erstickte den Atem der Ketzer. Völker, Stämme, R… und Klassen, so fremd und feindlich sie einander waren, verband dieser einhellige, demütige Gehorsam, dieser blind und selig dienende Glaube zu einer großartigen Gemeinschaft.“

Bis auf Weiteres ist die Seele der weißen Menschheit katholisch. Europa existiert unter einem Glaubensdach. „Jeder Wunsch nach Wahrheit und Wissenschaft“ erscheint verdächtig. Trotzdem bricht „ein Geschlecht geistiger Konquistadoren“ zu neuen Wissensufern auf.

Der selbstermächtigte Mensch

Zweig beschwört das Momentum der Gleichzeitigkeit von Aufbruch und Restauration. Epochale Gestalten des sechzehnten Jahrhunderts erleben sich als „Mittelpunkt des Geschehens, als Kraftträger der Welt“. In einem schier „unvergänglichen Machtrausch“ reißen die Gestalter:innen mittelalterliche Demutsbarrieren nieder. An die Stelle religiöser Inbrunst tritt ein stürmisches Erkennen der Wirklichkeit mit naturwissenschaftlichen Mitteln.

Die Übertragungswege der Pest kennt man noch nicht. „Die schreckliche Seuche schien wie Dunstschwaden durch die Luft zu ziehen“, so Sandra Langereis in ihrer Erasmus-Biografie. Dazu morgen mehr.    

Quellengenauigkeit

Zweig beschreibt den Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert als Zeitenwende. Anno 1500 bringt sich Erasmus mit einer quellengenauen Sammlung antiker lateinischer und griechischer Sprichwörter ins Spiel. Die „Adagia“ wird zum Bestseller. Ihr Autor übt Kritik an der weltlichen Ausrichtung des Klerus. Die Einheit der Kirche will er aber auf keinen Fall in Frage gestellt wissen.