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2023-12-26 15:17:10, Jamal

„Kühn und ängstlich, vordringend und doch unentschlossen vor dem letzten Stoß, kämpferisch im Geiste, friedliebend mit dem Herzen, eitel als Literat und tiefdemütig als Mensch, Skeptiker und Idealist, bindet er alle Gegensätze in lockerem Gemenge in sich zusammen.“ Stefan Zweig über Erasmus von Rotterdam

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„Mein Herz ist katholisch, aber mein Magen lutherisch.“ Erasmus von Rotterdam

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„Niemals muss man gewissenhafter auf Posten stehen, als wenn der Feind so tut, als wolle er Frieden schließen; nie haben wir ihn weniger zu fürchten, als wenn er uns offen angreift.“ Erasmus von Rotterdam

Gewiefte Widmungen

„Kein Fortschritt in den Wissenschaften, keine Erfindung, kein Pamphlet, kein politisches Ereignis entgehen (Erasmus).“ Er verkörpert den engagierten Zeitgenossen als zugempfindliche Schreibtischpersönlichkeit. Der verfrühte Enzyklopädist schmeichelt der Macht und verspottet sie gleichzeitig. Er perfektioniert eine raffinierte Widmungspolitik. Sandra Langereis spricht von „einer Sturzflut an gewieften Widmungen“.

Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-

Erasmus hofft auf eine Karriere jenseits des europäischen Festlandes.

„In England wusste er sich von gelehrten Freunden geschätzt.“

Der Hof des Inselstaates lässt den Nachwuchs von humanistischen Herolden des Fortschritts erziehen, während Bildung an anderen Höfen kein Ansehen genießt. Langereis‘ Erzählung wirft ein unerwartet helles Licht auf den künftigen Heinrich VIII. Dessen dreisprachige Großmutter Margaret Beaufort sorgt dafür, dass er die bestmögliche Ausbildung erhält. Der Kronprinz verblüfft mit fulminanter Korrespondenzgeschmeidigkeit in der Gelehrtensprache Latein. Unterrichtet wird er von einem ehemaligen Erasmus-Schüler. William Blount, der vierte Baron Mountjoy (ca. 1478 - 1534), unterstützt den Praeceptor mundi. Verzweifelt strebt Erasmus nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Er setzt alles daran, ein Kirchenamt zu ergattern. An ihm nagt die illegitime Herkunft sowie seine sträflich vernachlässigten klösterlichen Verpflichtungen als Mönch. Er verheimlicht eine „verdammte Geburt“, die seinen priesterlichen Auftritt zu einem Verbrechen machen. In Teufels Küche käme das bedürftige Genie, würde es auffliegen. 1506 erwirkt Erasmus seinen ersten päpstlichen Dispens. Julius II. gestattet ihm nicht allein ein Leben außerhalb des Klosters (Stein), sondern gewährt dem glücklichen Bittsteller zudem das Recht auf eine Pfründe.

Erasmus muss trotzdem weiter kleine Brötchen backen. Immerhin erhält er ein Promotionsstipendium am soeben in der Schirmherrschaft von Heinrichs Oma gegründeten College von Cambridge.

Lady Margarets regierendem Sohn obliegt die Genehmigung aller kirchlichen Pfründe. Heinrich VII. verwehrt dem Niederländer ein sicheres Auskommen. Der hochrangige Dispens suggeriert eine verschleierte Unbotmäßigkeit. Erasmus geht wieder einmal leer aus. Seine freie Schriftstellerexistenz bleibt eine unbefestigte Angelegenheit.

Im Sommer 1506 reist er als Privatlehrer der Söhne von Heinrichs italienischem Leibarzt via Paris nach Italien. Langereis imaginiert die Beschwerlichkeiten einer berittenen Alpenüberquerung auf Saumpfaden.

Ein Druckerzeugnis als europäisches Ereignis

Am 4. September 1506 wird Erasmus in Turin zum Doktor der Theologie promoviert. Die akademische Adresse lässt zu wünschen übrig. Sie entspricht einer Not- und Ausweichlösung, da die europaweit weit angesehenere Universität von Bologna zurzeit in einem Kriegsgebiet liegt. Den Streit entscheidet dann Papst Julius II. für sich. Erasmus verspottet den Würdenträger in einem Brief. Einen Ruf der Universität Löwen überhört er.

„Obgleich er nie an der Universität Löwen studierte oder lehrte, weilte er 1517 einige Monate in Löwen und half, das Collegium Trilingue zu gründen.“ Quelle 

Das Erscheinen des Sprichwörterbuches Adagia bezeichnet Langereis als „europäisches Ereignis“.

Stefan Zweig sekundiert: „(Mit) Erasmus wird der Schriftsteller erstmals eine europäische Macht neben den anderen Mächten.“

Freihändig und leichtfüßig kommentiert Erasmus seine Gegenwart. Mühelos überflügelt er die Konkurrenz. Er sucht, sichtet, sammelt und komprimiert (nach einer Darstellung von Zweig). Punktgenau erspürt er den Zeitgeist. Die Zitatensammlung erleichtert es, ehrgeizigen Briefschreiber:innen Eindruck zu schinden.  

„Die Briefgattung, die sich in dieser Zeit entwickelte, war die Zeitung unserer Zeit, oder vielmehr die literarische Zeitschrift, die sich fast direkt aus der gelehrten Korrespondenz entwickelte. Das Briefeschreiben war … eine Kunst. … Briefe wurden in der Regel in der Absicht geschrieben, sie später für ein breiteres Publikum zu veröffentlichen, oder jedenfalls in dem Wissen, dass der Adressat sie anderen zeigen würde.“ Johan Huizinga

Für den beständigen Erfolg des Autors gibt es erst einmal keine Erklärung. Stets trifft Erasmus einen Nerv. „Wenn er die Bibel aus dem Griechischen ins Lateinische neu übersetzt und kommentiert, beginnt damit eine neue Theologie“, schreibt Zweig. 1509 erhebt Kaiser Maximilian I. Erasmus zum Reichsfreiherrn. Nun erst erscheint der polyglotte Kosmopolit als Erasmus von Rotterdam. Als Nobilitierter erhält er geregelten Zugang zu europäischen Höfen. Erasmus avanciert zum Erzieher des künftigen Kaisers Karl V. Im Kampf gegen die Reformation spielt der Habsburger die führende Rolle. Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre.  Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.

Zur Autorin

Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.