Religiöse Anämie
„Auch die Kirche wird in ihrem Bestande keinen Schaden erleiden, wenn ich in der Eile des Diktates einige Worte ausgelassen habe.“ Hieronymus, der Urheber der Vulgata-Bibel, im Zusammenhang mit seiner kodifizierenden Übertragung biblischer Urtexte aus dem Hebräischen und dem Griechischen ins Lateinische; zitiert nach Sandra Langereis
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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier.
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„In der Renaissance (bedeutete) … Begabung dasselbe wie Vielseitigkeit.“ Egon Friedell
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„Wie oft schon … ist Europa vor dem Orient … zur übersichtlichen Halbinsel geworden, deren Schicksal es bleibt, Kontakte zu suchen, um nicht immer wieder in … religiöser Anämie zu erkalten.“ Ernst Bloch, „Geist der Utopie“
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„Auch unsere (westlichen) Seelen, siech und leer, gehen nach einem Ex oriente lux.“ Ernst Bloch
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„Wer aber nichts ist, der trifft auch draußen nichts mehr an.“ Ernst Bloch
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„Als die Mailänder (Francesco Sforza) einen Triumphbogen bauten … (erklärte der Geehrte:) ‚Das sind abergläubische Einrichtungen der Könige, ich aber bin ein Sforza‘.“ Egon Friedell
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„Diesen Mittag war ich das erste Mal bei Goethe zu Tisch. Es waren außer ihm nur Frau von Goethe, Fräulein Ulrike und der kleine Walter gegenwärtig, und wir waren also bequem unter uns, Goethe zeigte sich ganz als Familienvater, er legte alle Gerichte vor, tranchierte gebratenes Geflügel, und zwar mit besonderem Geschick, und verfehlte auch nicht, mitunter einzuschenken.“ Johann Peter Eckermann
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„Deinen Freunden werde ich das Haus verbieten. Das sind undisziplinierte Menschen, die sich unausgesetzt mit ihrem Gewissen beschäftigen, statt zu arbeiten.“ Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“
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„Der Konkurrenzkampf der kulturellen Evolution drängt uns zu Werten, die in der jeweiligen Phase der Energiegewinnung am besten funktionieren.“ Ian Morris
Gedankengetreue Übertragung
Ernst Bloch nennt die Bibel „den höchsten Orient“. Ab Augustin habe sich der leere westliche Mensch mit der Bibel zu einem „apokalyptischen Bewusstsein“ aufgerafft. Noch die gelehrtesten Theologen des Mittelalters beschränken sich auf das Studium der Bibel in lateinischer Sprache. Alle berufen sich auf die von Sophronius Eusebius Hieronymus aus dem Griechischen und Hebräischen nicht wort- sondern gedankengetreu übertragene, seit dem Jahr 400 unserer Zeitrechnung verfügbare Vulgata. Erst in der letzten Generation vor Erasmus taucht die Idee der Notwenigkeit von Quellengenauigkeit auf. Lorenzo Valla postuliert eine Rückkehr zum antiken Ursprung, indem er für ein Studium der Bibel in den Originalsprachen Griechisch und Hebräisch eintritt.
Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-
Erasmus avanciert zum Doyen einer Avantgarde, die vom Original ausgeht. Langereis bringt ein Beispiel für eine „aus der Luft gegriffene“ Verdrossenheit im Auslegungskontext. Jahrhunderte stand wie in Stein gemeißelt:
„Denn ich kenne meine Schlechtigkeit: meine Sünde ist immer gegen mich.“
Versteht man den Primärtext, dann offenbart sich ein Übersetzungsfehler, der mit einem enormen Deutungspotential an seinem ursprünglichen Sinn vorbei aufgeladen wurde. Die falsch übersetzte Stelle belegt, „dass die Menschheit seit Adams Sündenfall zum Bösen geboren sei“. Das ergibt sich aus einer Gleichsetzung von gegen und gegenüberstehend. Beachtet man die Differenz entsteht ein vollkommen anderes Bild:
„Denn ich kenne meine Schlechtigkeiten: meine Sünde steht mir immer vor Augen.“
Langereis betont, wie viel optimistischer diese Botschaft dem mittelalterlich-buchstabengläubigen Publikum im Vergleich zu dem fatalistischen Fazit in der lateinischen Translation erscheinen musste. Eine Gesellschaft ist umso wortgläubiger je weniger sie alphabetisiert ist.
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Erasmus schlägt sich durch. Das prekäre Genie veranschlagt sein Talent selbst so hoch, dass es sich nichts vergibt, wenn es hier und da Geld erbittet. Ein sozialer Durchbruch zeichnet sich ab, als der Kanzler der Universität von Löwen Erasmus zum Laudator in allerhöchsten Angelegenheiten macht. Am 6. Januar 1503 schmeichelt Erasmus dem waltenden Herrscher der burgundischen Niederlande mit all seiner Wortgewalt in einem Brüsseler Rittersaal. Die Stände von Brabant empfangen da Herzog Philipp, genannt ‚der Schöne‘, dem gerade in Spanien die Königskrone angeboten wurde.
Zwar forscht Erasmus an der Universität von Löwen, am Unterrichtsbetrieb beteiligt er sich aber nicht mit Vorlesungen. Einen akademischen Ruf überhört er.
„Obgleich er nie an der Universität Löwen studierte oder lehrte, weilte er 1517 einige Monate in Löwen und half, das Collegium Trilingue zu gründen.“ Quelle
Für seine Eloge erhält Erasmus fürstliche fünfzig Goldstücke. Das erschöpft die herzogliche Großzügigkeit. Philipp rückt nur noch einmal zehn Goldstücke heraus, als Almosen, das er dem „Studenten“ Erasmus gewährt. Der einschlägige Quittungstext diskreditiert den singulären Gelehrten. Die Formulierungen setzen Erasmus auf die niedrigste akademische Stufe herab.
In einer Klosterbibliothek entdeckt Erasmus Lorenzo Vallas „unveröffentlichte Kommentare … zu (seiner) Textüberlieferung des Neuen Testament“. Valla postulierte eine Rückkehr zum antiken Ursprung, indem er für ein Studium der Bibel in den Originalsprachen Griechisch und Hebräisch eintrat. Er deutete die Bibel „als historisch gewachsenen Text und Menschenwerk“. Deshalb musste er sich vor der Inquisition verantworten. In den Kommentaren begründete er die Haltlosigkeit der inquisitorischen Vorhaltungen.
Die Geschichte der Bibel sei unvermeidlich eine Geschichte der Übersetzungs-, Kopisten- und Verständnisfehler. Valla verkündete, was jeder helle Kopf wusste: dass das Apostolische Glaubensbekenntnis nicht aus „der Zeit Jesu und der Apostel“ stammte. Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre. Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.
Zur Autorin
Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.