„Ausführlich zu schildern, was sich niemals ereignet hat, ist nicht nur die Aufgabe des Geschichtsschreibers, sondern auch das unveräußerliche Recht jedes wirklichen Kulturmenschen.“ Oscar Wilde
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„In der Geschichte gibt es nur zwei wirkliche Weltwunder: den Zeitgeist mit seinen märchenhaften Energien und das Genie mit seinen magischen Wirkungen.“ Egon Friedell
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„Die Erfolge der großen Eroberer und Könige sind nichts gegen die Wirkung, die ein einziger großer Gedanke ausübt.“ Egon Friedell
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„Zum Teufel mit den Zechkumpanen mit gutem Gedächtnis.“ Aus Erasmus von Rotterdams Sprichwörterbuch Adagia ; zitiert nach Sandra Langereis, die in ihrer Erasmusbiografie die mehr als dreitausend Redensarten kompilierende Zitatensammlung als „europäisches Ereignis“ feiert.
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„(Mit) Erasmus wird der Schriftsteller erstmals eine europäische Macht neben den anderen Mächten.“ Stefan Zweig, „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“
Beklagenswerter Tatendrang
An mehr als einer Stelle moniert Erasmus „beklagenswerten Tatendrang (infolge) jugendlicher Unerfahrenheit“. Das einschlägige, ursprünglich griechische Sprichwort überliefert der Autor in der Kompilation Adagia. Der Zitatenschatz erscheint erstmals 1500 als ein „in wenigen Tagen zusammengeschustertes … (schlampig produziertes) unscheinbare(s) Büchlein“. In einer erweiterten Ausgabe beklagt der Autor die „Stümperei“ des ersten Durchgangs. Er zieht eine Linie von der mangelhaften Quellenlage, soweit es die griechische Antike betrifft, bis zu den Druckfehlern.
Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-
Götter, Christen und Sophisten boten sich Humoristen vom Schlag eines Lukian von Samosata als Zielscheiben an. „(Die Wendung) den Bock melken bezog sich speziell auf das Geschwätz der Sophisten.“
Royaler Todesfall
Der gemolkene Bock taugt auch als Vergeblichkeitsphrase. Dazu passen die fehlgeschlagenen Versuche des Kompilators, sich ein gleichmäßiges Einkommen zu sichern. Die Hoffnung auf eine solide Existenzgrundlage nährt schließlich eine Nachricht vom Tod des englischen Königs. Heinrich VII. hatte Erasmus eine kirchliche Pfründe verweigert. Der abschlägige Bescheid einer regulären Alimentierung war königlichen Zweifeln an der Geburtslegitimität des Bittstellers geschuldet. Erasmus Akkreditierung am englischen Hof reichte dennoch so weit, dass er dem Nachfolger des Verstorbenen zum Begriff werden konnte. Dem jugendlichen Kronprinzen gefiel es, Erasmus einen Brief zu schreiben, der als Ausweis fürstlicher Gelehrsamkeit in die Geschichte einging.
Wir reden von Heinrich VIII. Kein neuzeitlicher Monarch verdiente sich ein fürchterlicheres Andenken. Doch im Augenblick seiner Inthronisierung heißt es:
„Der Himmel lächelt, die Erde jubelt, alles ist Milch und Honig und Nektar.“
Zu jener Zeit wird der Praeceptor mundi Zeuge einer Verheerung Italiens in der Regie von Julius II. Der Papst tritt als Condottiere auf. Er umgibt sich mit geharnischten Haudegen. Seine Bischöfe wissen nichts mehr von apostolischer Genügsamkeit. Sie prassen vor den Augen eines hungernden Volkes.
Nobilitierte Freunde rufen den in Rom klosterflüchtigen, in Turin 1506 zum Doktor der Theologie promovierten Starautor nach England. Der Erzbischof von Canterbury verspricht ihm ein Kirchenamt. Er soll sich beeilen.
Als Erasmus 1509 in London aufkreuzt, präsentiert sich der weltläufige Augustinermönch als Priester. Gelübde-treue Armut in Abgeschiedenheit liegt ihm nicht. Er gibt den Kleriker im Gesellschaftstrubel. Erasmus trägt sogar ein Schmuckstück. Schon lange hat der „Kanoniker des Augustinerordens“ kein Schriftstück mehr mit einem Hinweis auf seine schlichte Stellung im Kirchengefüge unterzeichnet.
In London kommt Erasmus bei seinem ungemein tatkräftigen Freundes Thomas More unter. Der Inhaber bedeutender Ämter führt eine exemplarische Existenz und ein offenes Haus. Seine engste Umgebung gleicht einem Zukunftslabor. In dieser Sphäre entsteht die erstmals 1511 „im Quartformat“ publizierte „Scherzschrift“ (Stefan Zweig) „Lob der Torheit“.
„Der einmalige und unwiederholbare Kunstgriff dieses Werkes ist ein genialer Mummenschanz: Erasmus nimmt nicht selber das Wort, um alle die bitteren Wahrheiten zu sagen, die er den Mächtigen dieser Erde zudenkt, sondern er schickt statt seiner die Stultitia, die Narrheit, auf das Katheder, damit sie sich selber lobe. Dadurch entsteht ein amüsantes Quiproquo.“ Stefan Zweig
Erasmus verstellt die Wege zur eindeutigen Zuordnung. Die Frage wer sagt was verhält sich abdeckend zum subversiven Grund des Gesagten. Unglaublich geschickt schützt sich der Autor vor der Inquisition. Dazu morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre. Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.
Zur Autorin
Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.