„Denn Humor und Übertreibung bildeten zusammen eine mächtige Waffe, die den eigentlichen Ernst der Sache bagatellisierte.“ Sandra Langereis
*
„Auf der Höhe des Mittelalters erklärt Hugo von Saint Victor, das Wissen um des Wissens willen sei heidnisch; und Richard von Saint Victor fügt hinzu, der Verstand sei kein geeignetes Mittel zur Erforschung der Wahrheit. Egon Friedell, „Kulturgeschichte der Neuzeit“
*
Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier.
*
„Sie ist ein Genie im Verpfuschen, Verstören, Ersticken; in einer blinden, instinktiven Art.“ Anaïs Nin über June Miller
*
„Wir sind schließlich alle nur Plagiatoren des Weltgeistes, Sekretäre, die sein Diktat niederschreiben.“ Egon Friedell
*
„Alle landläufigen Definitionen der Neurasthenie sind nichts anderes als gehässige Umschreibungen für die physiologischen Zustände des begabten Menschen.“ Egon Friedell
*
“Between the idea and the reality, between the motion and the fact, falls the shadow!” T.S. Eliot
*
„Das Leben eines Schriftstellers der Frühmoderne war vom Patronat abhängig.“ Sandra Langereis
*
„Denn ehe man (es sich) versah, musste man als geschundener Graubart die Enttäuschung eines vergeudeten Lebens aussitzen.“ Sandra Langereis
*
„Der Adel verlangte alles, fühlte sich aber zu nichts verpflichtet.“ Sandra Langereis
Mönch auf Abwegen
Noch vor der Reformation verlieren Klöster ihre unangefochtene Stellung im gesellschaftlichen Gefüge der Niederlande. Während hundert Jahre zuvor eine Klostergründungseuphorie dem Geistlichen jeden Vorrang einräumte, greift zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Weltliche um sich.
„Desertationen aus dem Kloster sind an der Tagesordnung.“
Auch insofern ist der unwillige, nach strengen Maßstäben sogar abtrünnige Mönch Erasmus ein Kind seiner Zeit.
„Eines Tages stellte sich heraus, dass Erasmus (das Kloster) Stein unangekündigt verlassen hatte.“
Als Sohn eines Priesters kam er „verdammt“ zur Welt. Der Geburtsmakel schmälert seine Rechte und verstellt vermutlich nur ihm nicht die Aussicht auf gesellschaftliche Anerkennung. Der Avancierte setzt alles daran, das Abstammungsstigma zu verschleiern. Der einzigartige Aufstieg zum „Starautor“ bleibt bis zum Schluss bedroht.
Sandra Langereis, „Erasmus. Biografie eines Freigeists“, aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke, Propyläen Verlag, 966 Seiten, 49,-
Erasmus erwirkt einen Generaldispens bei Papst Leo X. aka Giovanni de Medici; dies nicht zuletzt, um seine wirtschaftlichen Verhältnisse in geordnete Bahnen lenken zu können. Nun muss sich Erasmus den Vorwurf der Heuchelei gefallen lassen. Obwohl er klerikale Ämterhäufung ebenso wie den Ablasshandel als epochale Missstände kritisiert, bemüht er sich beim weltweit größten Ablasshändler um Kirchenpfründe.
Leo exkommuniziert Luther.
Thomas von Aquin begnügte sich mit einem lateinischen Quellenstudium sogar bei seinem „wissenschaftsphilosophischen Gewährsmann Aristoteles“. Ein Kollege übertrug die Werke für Aquin aus dem Griechischen.
„Aber dieser Willem von Moerbeke hatte in guter mittelalterlicher Tradition Aristoteles‘ Griechisch nicht Satz für Satz, sondern Wort für Wort übersetzt, was zu stark deformierten … Sätzen führte.“
Wir erinnern uns. Im Auftrag des Abts von Monastero di San Benedetto (heute St. Benedikt), einem Kloster nahe Fabriano, übersetzte Erasmus‘ Vater Roger Gerard „zwei Schlüsseltexte des Christentums“, namentlich Augustinus‘ „Vom Gottesstaat“ und Thomas von Aquins „Summa theologica“.
Als Student in Paris erlebt Erasmus die ungebrochene Macht der Summa-Exegeten. Sie erschöpfen sich an einem Konvolut aus zwei Millionen Wörtern.
„(Die Summa) handschriftlich zu vervielfältigen war eine zeitraubende und sündhaft teure Knochenarbeit.“
Der akademische Streit dreht sich um Spitzfindigkeiten auf dem Sockel einer Intellektualität, die zweihundertfünfzig Jahre zuvor wegweisend war. Die Studierenden pauken ein ungeheures Pensum nach Vorgaben „einer schwerfälligen … Erkenntnistheorie“ - der Scholastik.
Erasmus begreift rasch, „dass der ganze scholastische Turm von Babel mit dem kleinsten Scherz ins Wanken gebracht werden konnte“.
Antiker Anfang
Zwei Auffassungen reagieren mit durchgreifenden Wirkungen kritisch auf die Scholastik. Thomas von Kempen sagt: „Es ist mir ungleich lieber, ein lebendiges Gefühl der Reue und Buße im Herzen zu haben, als eine schulgerechte Erklärung geben zu können, was Reue und Buße sei.“
Lorenzo Valla postuliert eine Rückkehr zum antiken Anfang, indem er für ein Studium der Bibel in den Originalsprachen Griechisch und Hebräisch eintritt. Diese Strömung trägt Erasmus.
Zu den Privatschülern des Theologiestudenten Erasmus zählt ein hochwohlgeborener Engländer. Sogar in den Semesterferien verzichtet William Blount (ca. 1478 - 1534) nicht auf seinen Privatlehrer. 1499 erweitert Erasmus die Freizeitentourage des vierten Barons Mountjoy.
In England atmet Erasmus zum ersten Mal die Luft der Freiheit. „Da zählt (niemand) seine Messen und Gebete nach.“ In einem Moment des Friedens blüht die angelsächsische Gesellschaft auf.
Erasmus bewährt sich als Jäger und Reiter. Er übt sich in der Kunst, als Höfling eine gute Figur zu machen. Sein Schüler bereitet sich auf eine Hauptrolle am Hof von Heinrich VII. vor. Ihm steht die Ernennung zum Hauslehrer der jüngeren Königskinder bevor. Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre. Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus‘ Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.
Zur Autorin
Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland. Ihre Erasmus-Biografie wurde 2021 mit dem LIBRIS GESCHIEDENIS PREIS 2021 für das beste historische Werk für ein breites Publikum ausgezeichnet und setzte sich dabei u.a. gegen das neue Buch von David Van Reybrouck durch.