Souveräne Handelsdiktatur
„Könige gibt es viele auf der Welt, aber nur einen Michelangelo.“ Pietro Aretino
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Zu Beginn des 15. Jahrhunderts karikieren drei gleichzeitig waltende Päpste das christliche Weltbild. Die Anarchie von oben eliminiert Sicherungen und Stabilisatoren der Herrschaft. Sie zerstört das Fundament der mittelalterlichen Gesellschaft. Die ritterliche Gefolgschaftstreue verliert ihre grandiose Dimension. Die Scholle verliert ihre Bindungskraft für die Leibeigenen. Das Patriziat verliert seine Sperr- und Riegelfunktionen. In seiner „Geschichte der Neuzeit“ zitiert Egon Friedell Petrarcas Schilderung am Hof des Papstes zu Avignon: „Alles Gute ist dort zugrunde gegangen … je befleckter ein Leben ist, desto höher wird es bewertet, und der Ruhm wächst mit dem Verbrechen“.
Versuche der Bischöfe, sich aufzuschwingen, und die Rolle des Papstes zu verkleinern, scheitern. Am vorläufigen Ende des Kirchenkampfes gibt es wieder nur den Papst im Vatikan.
„Äußere Siege und Niederlagen entscheiden nichts im Gange der Geschichte“, schreibt Friedell. „Der Papstgedanke starb, trotz seiner Siege … (er) herrschte unumschränkt; aber man nahm ihn nicht mehr ernst.“ Der Papst war nur noch „ein reicher alter (Knacker) wie andere auch“.
Heroenzeitalter des Philistertums
Friedel beschreibt die „Machtvollkommenheit der Hanse (in ihrer mittelalterlichen) Blüte als „souveräne Handelsdiktatur“. Der Gelehrte diagnostiziert einen „geistfremden Fachdilettantismus“, der sich aus einer eingeengten Betrachtungsweise ergab; aus einem „zähen Kleben an der kompakten Materie des Daseins“. Friedell erkennt eine Epochenmarke in der kultischen Achtung des Werkzeugs; in der „Andacht vor dem Arbeitsgegenstand“ im „Heroenzeitalter des Philistertums“.
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„Luthers Genie liegt tausendmal mehr in … seiner vollsinnlichen Vehemenz als in seiner Intellektualität.“ Stefan Zweig
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„Niemals würde ich mir um der Wahrheit willen den Kopf abschlagen lassen.“ Erasmus von Rotterdam; zitiert nach Sandra Langereis
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„Heutige Lutheraner glaubten vor allem das, was Erasmus vertreten habe.“ So zitiert der Deutschlandfunk den Philosophen Wolfgang Christian Schneider (im Gespräch mit Andreas Main), Quelle
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„Erasmus emanzipierte die Bibelleser, indem er sie gegen die Wörter wappnete … Luther machte die Bibelleser den Wörtern gegenüber wieder fügsam.“ Sandra Langereis
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Als Macht und Bildung nach nicht zusammengehörten, hatte es die Bildung leicht, in die Nähe der Macht zu kommen, da sich die Macht von der Bildung nicht in Frage gestellt wähnte. Die Bildung nutzte der Macht, ohne Macht zu erlangen. Ihre Akteure dienten als Redenschreiber und Hofnarren. Das beschreibt die Krux des Humanismus. Die Humanisten hielten sich für eine Kraft zwischen den Polen Restauration und Reformation. Erasmus lieferte mit seiner Existenz das schönste Beispiel für ein Dilemma. Hätte er sich offensiv gegen Luther gewandt, wäre er Bischof geworden. Wäre er mit Luther marschiert, hielten wir ihn heute für den größten Protestanten.
Allgemein erschienen die Akteure des Humanismus als „honette, ein wenig eitle Pedanten, die ihre lateinischen Namen trugen wie eine geistige Maskerade“. Stefan Zweig unterstellt ihnen die „Pedanterie“ von Paukern. Eine „professorale Naivität“ verstellte den Blick auf die harte Wirklichkeit. Zweig findet das schöne Wort vom „nüchternen Träumer“, der sich in seinem Elfenbeinturm eine einwandfreie Welt konstruierte. Von dem Feuer und der Leidenschaft im Massen- und Machtmenschen wollte er nichts wissen. Bei Luther endete die Versöhnlichkeit. Jene, die eine Kirchenreform ohne Schisma für möglich hielten, verloren ihre Stimmen an die Schreier der Reformation und deren Gegner.
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„Der organische Grundfehler des Humanismus war, dass er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen. Diese akademischen Idealisten glaubten schon zu herrschen, weil ihr Reich weithin reichte, weil sie in allen Ländern, Höfen, Universitäten, Klöstern und Kirchen ihre Diener, Gesandten und Legaten hatten … aber im tiefsten umfasste dies Reich doch nur eine dünne Oberschicht und war schwach verwurzelt mit der Wirklichkeit.“ Stefan Zweig
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„Wie die Germanen ins klassische Rom, so bricht Luther, der fanatische Tatmensch, mit der unwiderstehlichen Stoßkraft einer nationalen Volksbewegung in ihren übernationalen, idealistischen Traum. Und noch ehe der Humanismus sein Werk der Welteinigung wahrhaft begonnen hat, schlägt die Reformation die letzte geistige Einheit Europas, die ecclesia universalis, mit eisernem Hammerschlag entzwei.“ Stefan Zweig
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Zweig exponiert den Gegensatz zwischen der zarten, wenn nicht dürftigen Konstitution des epochalen Gelehrten und den „wilden Kraftnaturen der Renaissance und der Reformation“.
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„Nirgends ein Zug vordringender Kühnheit“, salbadert Johann Caspar Lavater, laut Zweig. Erasmus taugte nicht zum Märtyrer. Zweig spricht von einer allseits bekannten „Charakterschwäche“. Ferner spricht er von Konquistadoren des Geistes. Das Jahrtausendverbrechen des Kolonialismus thematisiert er nicht.
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„Ich habe eine flinke Hand und ein rasches Erinnerungsvermögen. Wenn ich schreibe, fallen mir die Worte von selbst ein. Ich brauche mich nicht anzustrengen und nicht über meinen Stoff zu grübeln.“ Martin Luther; zitiert nach Sandra Langereis
Triumph der Exegese
Im Dezember 1516 wendet sich der noch kaum bekannte Theologieprofessor Martin Luther erstmals an Erasmus. Dies geschieht indirekt und anonym. Zum Boten eines Widerspruchs macht Luther den Sekretär des sächsischen Kurfürsten. Der Mittelsmann berichtet dem Kaiser des Geistes von einem Wittenberger Augustinermönch, der Erasmus zwar verehre, dessen Ansichten jedoch nicht in jedem Punkt teile.
„Er pflichte nicht der Ansicht des Aristoteles bei, man werde gerecht, indem man gerecht handle, sondern er glaube seinerseits, nur dadurch, dass man gerecht sei, käme man in den Stand, richtig zu handeln; erst muss die Person umgewandelt sein, dann erst folgen die Werke.“
Auf Umwegen trifft das einen markanten Punkt. In seinem uferlosen Quellenstudium fand Erasmus heraus, dass die Erbsünde (das Prunkstück der mittelalterlichen Predigt) gar nicht zum biblischen Markenkern gehört, sondern wenigstens einem Übersetzungs- und Deutungsfehler geschuldet ist. Diesen Triumph der Exegese weiß Erasmus vor der Inquisition zu verschleiern. Seine diplomatische Evangelisierung der römischen Kirche mit Hinweisen auf menschliches Versagen liefert der Geschicklichkeit ein Lehrstück.
Erasmus hält sich mit der Post aus Thüringen nicht auf. Für Nachrichten aus der akademischen Mittellage fehlt ihm der Müßiggang. Schließlich korrespondiert er mit Europas Elite. Ihm schwant nicht, dass der unverfrorenen Kontaktaufnahme allergrößte Ungemach folgen wird.
„Es gibt ein Bild von (Paul) Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt ... Der Engel der Geschichte muss so aussehen.“ Walter Benjamin
Keine das Herz abschnürende Ahnung streift Erasmus, als er zum ersten Mal auf die Spur seinen Angelus Novus stößt. Luther agiert bereits im Angriffsmodus. Er wird Erasmus von dessen humanistischen Kaiserthron stoßen.
„Er liest vorbei, ahnungslos, dass mit dieser Stunde eine Wende in seinem Leben und in der Welt begonnen. Bisher stand er allein, Herr Europas und Meister der neuen evangelischen Lehre, nun aber ist der große Gegenspieler aufgestanden. Mit leisem, kaum hörbarem Finger hat er an sein Haus und an sein Herz geklopft, Martin Luther, der hier sich noch nicht mit Namen nennt, den aber bald die Welt den Erben und Besieger des Erasmus nennen wird.“
Luther vertraut Eingebungen und verleiht seinen Gebrauchspublikationen eine „apostolische Patina“ (Sandra Langereis). Zuhauf verbreitet er Texte im Spektrum zwischen Predigt, Vorlesung und Apologie.
Gemütsgärtner im Ahnentross
„Ich habe eine flinke Hand und ein rasches Erinnerungsvermögen. Wenn ich schreibe, fallen mir die Worte von selbst ein. Ich brauche mich nicht anzustrengen und nicht über meinen Stoff zu grübeln.“ Martin Luther; zitiert nach Sandra Langereis
Luther und Erasmus begegnen sich lediglich „im geistigen Weltraum“. Persönlich weichen sie einander aus. Die Vermählung der Antagonisten beschränkt sich auf den Devotionaliendiscounter in all seinen nordeuropäischen Ausprägungen. Auf zahllosen Stichen für den alltagsgläubigen Gebrauch bilden Luther und Erasmus ein Paar.
„In Fleisch und Blut, in Norm und Form, in Geisteshaltung und Lebenshaltung, vom äußeren Leib bis zum innersten Nerv gehören sie gleichsam verschiedenen, feindgeborenen Charakter… an: Konzilianz gegen Fanatismus, Vernunft gegen Leidenschaft, Kultur gegen Urkraft, Weltbürgertum gegen Nationalismus, Evolution gegen Revolution.“
Zweig illustriert und arrondiert den Gegensatz weiträumig. Sein Luther strotzt vor Vitalität und Virilität. In ihm trifft der Bergmann den Bauern im Ahnentross eines handfesten Akademikers. Dieser Theologieprofessor kann sich mit Erasmus nicht messen.
„Erasmus emanzipierte die Bibelleser, indem er sie gegen die Wörter wappnete … Luther machte die Bibelleser den Wörtern gegenüber wieder fügsam.“ Sandra Langereis
„Gesund und übergesund“ ist Luther nach Zweig.
„Ich fresse wie ein Böhme und saufe wie ein Deutscher.“
Erhebt die „Überschussnatur“ ihre Stimme, bebt der Erdkreis.
„Luthers Genie liegt tausendmal mehr in dieser seiner vollsinnlichen Vehemenz als in seiner Intellektualität.“
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Nach der potentiell tödlichen Stigmatisierung Luthers auf dem Reichstag zu Worms 1521, dem von Papst Leo X. umgehend verhängten Kirchenbann und der verspäteten kaiserlichen Acht hält Erasmus die Reformationsbewegung für gescheitert. Er selbst fühlt sich nicht zum Anführer des evangelischen Tempelsturms berufen.
„Also zurück in die Zelle, alter Mann, und verhänge die Fenster gegen die Zeit“, lässt Zweig seinen Helden munkeln. Der Rückzug provoziert ein doppeltes Verhängnis. Den Apologeten des protestantischen Projekts erscheint Erasmus lau. Die Restauratoren schimpfen ihn den „Anstifter der Lutherpest“.
Der Drangsalierte klagt: „Für zwei Parteien bin ich ein Ketzer“ (Sandra Langereis).
Erasmus befindet sich auf dem Weg zum verbotenen Autor. Jahre nach seinem Tod beschließen die Kirchengewaltigen auf dem Konzil von Trient ab 1559 die Tilgung seines Namens aus allen Emanationen der katholischen Sphäre.
Aus der Ankündigung
Erasmus von Rotterdam, »der erste bewußte Europäer, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals«, wurde durch seine Kritik an Theologie und Kirche zum Wegbereiter der Reformation. Doch als Kurfürst Friedrich ihn im Glaubensstreit zwischen Luther und dem Papst um sein Votum bat, scheute der wohl berühmteste und gelehrteste Mensch seiner Zeit die Verantwortung einer Entscheidung. Zweig fasst Triumph und Tragik seines Lebens mit der Sympathie eines Wesensverwandten zusammen: »der freie, der unabhängige Geist, der sich keinem Dogma bindet und für keine Partei entscheiden will, hat nirgends eine Heimstatt auf Erden«.
Zum Autor
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.