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2023-12-27 12:38:35, Jamal

„Dutzende Male haben Luther und Erasmus die gleichen Gedanken ausgesprochen, aber was bei Erasmus bloß einen feinen … Reiz auf die Geistigen ausübt, eben das gleiche wird bei Luther dank seiner mitreißenden Art sofort Parole, Feldruf, plastische Forderung, und diese Forderungen peitscht er so grimmig wie die biblischen Füchse mit ihren Feuerbränden in die Welt, dass sie das Gewissen der ganzen Menschheit entzünden.“ Stefan Zweig, „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“

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„Er schreibt nicht um des Ruhmes mehr, nicht um des Geldes willen, sondern einzig um der geheimnisvollen Lust, durch Vergeistigung des Lebens zu lernen und durch Lernen wieder stärker zu leben, Wissen einzuatmen und Wissen auszuatmen.“ Stefan Zweig über Erasmus von Rotterdam in der letzten Phase eines Gelehrtenlebens   

Zur Masse erstarkt

In seiner Geschichte der japanischen Literatur variiert Paul Adler das Wort von panem et circenses. Er macht daraus „Romanes et Circenses“.

„Diese Neuzeit Japans (seit dem 16. Jahrhundert) unter den Tokugawa-Shogunen eröffnet alle Schleusen der so lange traditionell gebliebenen Literatur. Das Volk, durch Gewerbe (Seidengewebe, von Korea eingeführte Keramik) zur Masse erstarkt, durch Handel in seiner Oberschicht reich geworden, ergreift die Herrschaft zunächst über das gedruckte Wort. Romanes et Circenses.“

2022 © Jamal Tuschick

Plebejischer Erzwingungswille

Vom „Furor teutonicus“ aufgereizt, fieberte der „geborene Raufbold“ Luther dem Kampf gegen seine zahlreichen Widersacher entgegen. „Auf dem Kampfplatz (wurde) der hochgebildete Doctor theologiae sofort zum Landsknecht.“

In seiner Erasmusiade „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ diagnostiziert Stefan Zweig beim Gegenspieler seines Helden „rasenden Grobianismus“ und das Wesen eines Berserkers. Er unterstellt Luther „Besessenheit“ und blinde Rücksichtslosigkeit.

„Um des Besseren und der Kirche willen (musste) man auch eine gute, starke Lüge nicht scheuen.“ 

Von Ritterlichkeit wusste Luther nichts. Über den Tod eines Gegners hinaus haderte er mit dem Ausgeschiedenen. Eine „gerechte Nachrede“ war von ihm nicht zu erwarten.

Im Gegensatz zu Luther trat Erasmus als „Kulturaristokrat“ auf. Den Konzilianten stieß der plebejische Erzwingungswille ab, mit dem Luther Furore machte.

„Aber niemals wird er Luthers Lust begreifen, einen Feind zu zertrampeln und zu zerstampfen, nie in einem seiner zahlreichen Federkriege die Höflichkeit außer Acht lassen und dem ‚mörderischen‘ Hass sich hingeben, mit dem Luther seine Gegner angreift.“

Nach der potentiell tödlichen Stigmatisierung Luthers auf dem Reichstag zu Worms 1521, dem von Papst Leo X. umgehend verhängten Kirchenbann und der verspäteten kaiserlichen Acht hält Erasmus die Reformationsbewegung für gescheitert. Er selbst fühlt sich nicht zum Anführer des evangelischen Tempelsturms berufen.  

„Also zurück in die Zelle, alter Mann, und verhänge die Fenster gegen die Zeit“, lässt Stefan Zweig seinen Helden Erasmus selbstgesprächig munkeln.

Der Rückzug provozierte ein doppeltes Verhängnis. Den Apologeten des protestantischen Projekts erschien Erasmus lau. Die Restauratoren schimpften ihn den „Anstifter der Lutherpest“ (Stefan Zweig).

„Nirgends ein Zug vordringender Kühnheit“, salbadert Johann Caspar Lavater, laut Zweig. Erasmus taugte nicht zum Märtyrer.

„Niemals würde ich mir um der Wahrheit willen den Kopf abschlagen lassen.“ Erasmus von Rotterdam; zitiert nach Sandra Langereis

Zweig spricht von einer allseits bekannten „Charakterschwäche“. Ferner spricht er von Konquistadoren des Geistes. Das Jahrtausendverbrechen des Kolonialismus erkennt er nicht. Die von Zweig verherrlichten Bezwingernaturen mordeten im Auftrag und mit der Genehmigung eines Sohnes der „wahnsinnigen Johanna“. Der Mann hieß Karl. Er war König von Kastilien und Aragón und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.  Erasmus von Rotterdam trug zu seiner Ausbildung bei. Im Kampf gegen die Reformation spielte der Habsburger die führende Rolle. Erst sein Sohn nannte sich König von Spanien.

Ein wahrer Konquistador war Domingo Martínez de Irala. Er duldete keinen über sich. Selten offen, oft heimlich trotzte er dem kaiserlichen Gottesgnadentum. Mit den Spitzen des Hofstaates, den iberischen Mandarinen, verband ihn nichts. Irala gründete sein eigenes Reich in der Neuen Welt. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts übergeht das Phänomen, indem sie sagt: nach Mendozas unrühmlichen Abgang trat Álvar Núñez Cabeza de Vaca als Gouverneur von Paraguay auf. Irala arbeitete ihm zu. Zwar sei der Untergebene ein fähiger Menschenschinder gewesen, darüber hinaus jedoch noch nicht mal kabinetttauglich.

Das stimmt ausnahmsweise. Irala fehlte die Geschmeidigkeit der Schranze. Er hatte keinem König mit einem Parapluie die Sonne vom Leib gehalten und sich von keiner Königin hinter den Paravant ziehen lassen. Irala warb nicht. Er befahl. Joseph Conrad behauptete, er habe Irala vor Augen gehabt, als er seinen Helden Marlow das Grauen in der Gestalt von Kurtz sehen ließ.

Ja, Kurtz ist Irala. Er ist über die Zivilisation hinaus. Sie stinkt ihm. Irala gründete Asunción, er erhob die Siedlung zur Hauptstadt, lebte selbst aber in einer Dschungelfestung am Río Paraguay. Dazu an anderer Stelle mehr.