Berstende Thermometer
In dem 1969 entstandenen Stück „Weiberkomödie“ (nach einem Hörspiel von Inge Müller) lässt Heiner Müller zwei Werktätige über den Nutzen der Ehe resonieren. Sie heißen Jenny Nägle und Häcksel. Dem Werbenden hält Brigadier (Originalschreibweise) Jenny entgegen: „Warum nicht lieber einen Hund … Wenn dein Hund fremd geht … zeigst ihm/Den Knüppel und gleich weiß er, wo Gott wohnt.“
Jahrzehnte später greift HM die Wendung noch einmal auf. In dem Gedicht „Herzkranzgefäß“ aus dem Jahr 1992 heißt es nun: „Der Arzt zeigt mir den Film DAS IST DIE STELLE/SIE SEHEN SELBST Jetzt weißt du wo Gott wohnt.“
„Asche der Traum von sieben Meisterwerken/Drei Treppen und die Sphinx zeigt ihre Kralle …“
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„Ein Indien im Nebel, als das uns das ganze maßlose Russland erscheint.“ Ernst Bloch, „Geist der Utopie“
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„Wer aber nichts ist, der trifft auch draußen nichts mehr an.“ Ernst Bloch
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„Der Mensch in der Natur (ist) ein Ding zwischen Null und All.“ Pascal
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„Ich möchte nur noch für die Ekstase leben. Die kleine Dosis, die gemäßigte Liebe, die Halbschatten lassen mich kalt. Ich liebe das Außerordentliche, Briefe, dass der Postbote davon einen steifen Rücken bekommt … Sexualität, dass die Thermometer bersten.“ Anaïs Nin
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„Es war, als ob die Menschheit plötzlich ihr statisches Organ verloren hätte … Das Alte gilt nicht mehr, das Neue noch nicht.“ Egon Friedell, „Die Geschichte der Neuzeit“
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„Ich habe nur gelebt, um zu schreiben. Dinge, Gefühle, Menschen habe ich nur gespürt, gesehen, gehört, um zu schreiben. Das ist mir lieber gewesen als äußeres Glück.“ Paul Léautaud
In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Gelungenes Scheitern
Während die Französische Revolution dem Genre der Raserei neue Tafelbilder liefert, befährt Berman von Pechstein auf der Exception die Frobisher Straße. Von Martin Frobisher (um 1535 - 1594) war schon die Rede, doch drängt es mich, die Aufmerksamkeit des Auditoriums auf eine überlebensgroße Erscheinung in der Gegenwart noch Größerer zu konzentrieren. Frobishers Bedeutung hing nicht vom Gelingen ab. Er scheiterte bei allen, mit den höchsten Erwartungen verbundenen und folglich populären Erkundungen eines (nordwestlichen) Durchgangs zu den orientalischen Märkten. Trotzdem erschien Frobisher seiner Zeit enorm. Er zählte zu jenem dreckigen Dutzend erklärter Staatsfeinde, das in einem rehabilitierenden/nobilitierenden Verhältnis zu Elisabeth I. glänzend wurde. Ich finde diese Günstlingswirtschaft und Argonauten-Patronage der ledig gebliebenen Königin von unseren Geschichtsschreiber:innen nicht genug beleuchtet. Wer da wen anschmachtete. Wie Herz und Kalkül sich auf einer Waage hielten.
Die Spanier und die ihnen zunächst überlegenen Portugiesen waren landläufigen arabischen Erpressungen und Preistreibereien auf einem Seeweg nach Indien entgangen. Um sich nicht weiter in die Quere zu kommen, hatten sie Papst Alexander VI. aka Rodrigo Borgia dazu bestimmt, im Vertrag von Tordesillas 1494 die Welt von Pol zu Pol aufzuteilen.
Borgia gab seiner Epoche das Gesicht, er war der Renaissancefürst. In der Frage, wie funktioniert Macht, bot sich Borgias Sohn Cesare B. Niccolò Machiavelli als Zentralgestirn der Inspiration an. Was aber geschah der königlichen Kirchenmaus Elisabeth in ihrem Armenhaus England? Wollte sie Querelen vermeiden, brauchte sie eine eigene Route zu den Gewürzinseln und allem, was sagenhaft war im Fernen Osten. Ihre Piloten vermuteten eine Passage im arktischen Archipel des Nordpolarmeeres. Man erlag bei den nördlichen Erkundungen den gleichen Irrtümern wie bei den südlichen. Immer wieder wurden atlantische Mündungstrichter für den Pazifik und Flüsse für Straßen zum Pazifik gehalten.
Frobisher begann seine Karriere als Brigant auf den Kanalinseln. Er sah das Grauen in portugiesischen Kerkern, segelte als Vize unter Francis Drake, heiratete über seine Verhältnisse, schlug in einer Seeschlacht die Spanier fast im Alleingang, erhielt den Ritterschlag und verlor als rechte Hand von Walter Raleigh ein Auge im Gefecht.
Genetischer Einlauf
Das war alltägliche Exzellenz im 16. Jahrhundert, wir wüssten weniger, wäre Frobisher ab 1576 nicht drei Mal aufgebrochen, um die Nordwestpassage seiner Königin zu sichern. Dann kam John Davis, der Frobisher im Scheitern folgte und doch weiter kam in seiner sachlichen, zur wissenschaftlichen Ansicht neigenden Art. 1607 passierte Henry Hudson das Land of Desolation (Grönland) mit dem Ziel, über den Pol zu rutschen. Halb erfroren und fast verhungert brach er vor Spitzbergen die Reise ab. Im nächsten Jahr segelte Hudson in den natürlichen Hafen des künftigen Nieuw Amsterdam und besichtigte die Insel Manhattan an der Mündung eines Flusses (dem Hudson River), dem er zutraute, im Stillen Ozean zu münden. 1611 endete seine letzte Expedition in einem atlantischen Becken, das so gewaltig ins Land (Labrador) greift, dass sich die Seefahrer schon wieder auf dem Pazifischen Ozean (Mare Magnum) wähnten. Wegen einer Versorgungsklemme nach achtmonatigem Eiseinschluss unmutig gewordene, von Hudsons hysterischer Entdeckerausdauer verstörte Matrosen wagten eine Meuterei, als das Schiff wieder fuhr. Sie zwangen den Kapitän, dessen Sohn und alle Kranken in ein Boot. Ein Freiwilliger schloss sich an. Die Ausgesetzten trieben zwei Tage auf dem eisbehauchten Spiegel und landeten dann lediglich unterkühlt, aber überhaupt nicht festgefroren vor den Haustüren von Leuten, die sich Sakâw-iginiw-ok nannten und für ihr Leben gern in Schwitzhütten berauschende Dämpfe einatmeten. Unter ihnen waren hellhäutige Nachkommen von Europäern. Der genetische Einlauf war den Ansässigen in der Frobisher-Ära verpasst worden. Morgen mehr.