MenuMENU

zurück

2024-01-15 08:11:18, Jamal

„Die Realität ist nicht die Wahrheit.“ Heiner Müller

*

Sehen Sie auch hier. Und hier.

*

„Francoise zog sich mit jedem Tag mehr und mehr von allen Freuden des Lebens zurück.“ Marcel Proust

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick

Aus sicherer Entfernung

Am 28. Januar 1986 endete der NASA-Weltraumflug STS-51-L gleich nach dem Start. Die Raumfähre zerbrach in einem Bild. Ein vielfach gewundener Explosionsschweif mäanderte über den Himmel. Das hatte die Welt noch nicht gesehen. Zu den Opfern des Unglücks zählte Judith Arlene ‚Judy‘ Resnik, deren Eltern aus der Ukraine nach Ohio gekommen waren.

Im April Sechsundachtzig befahl der amerikanische Präsident Reagan die Operation El Dorado Canyon. Die amerikanische Luftwaffe bombardierte Ziele in Libyen. Eine Serie restlichtverstärkter Bilder ersetzte dem Zuschauer die Realität und schuf ein neues Design der Wüstenkriegsberichterstattung. Es folgte das nukleare Menetekel Tschernobyl.

Im September schob mich meine Mutter in das Sterbezimmer ihrer Mutter. Die Greisin wollte von mir nichts wissen. Sie fertigte den zur Folgsamkeit entschlossenen Enkel ab. So kurz vor dem Abflug war sie von jeder Rücksichtnahme befreit.

Der Fernseher lief. Bulldozertypen, die wie am Fließband Riesenschäden verursachten, krakeelten neben Bud Spencer. Der Trash in Cinecittà Colour war beinah das Letzte, was Oma in ihrem Leben sah.  

Am Tag nach der Beerdigung besuchte ich Tante Brigitte in Alzenau. Sie hatte sich mit der Familie überworfen und existierte als Geächtete in der Diaspora. Ihre Hände zitterten, wenn sie sich nachschenkte. Eine Allergie hatte ihre Haut bis zum Haaransatz entzündet. Sie rauchte und hustete den Rauch aus. Sie trank und verschluckte sich. Der Wein überschwemmte das Kinn. Erbost fegte sie mit der Hand darüber. „Jedes Jahr warte ich auf den Sommer“, sagte sie, „und wenn er da ist, weiß ich nicht mehr, was ich mir von ihm im Winter versprochen habe“.

*

Ich suchte eine Beschäftigung. Bemerkenswert fand ich die Anzeige: „Biete Ganztagsbetreuung für einen Akita Inu. Voraussetzungen: Lauffreudigkeit und Wetterfestigkeit“.

Spazieren gehen und Geld dafür kriegen, so stellte ich mir die Aufgabe vor. Ich wusste nicht, wie ein Akita Inu aussieht. Ich tat nichts, um es herauszufinden.  

Ich legte mir Funktionshosen und einen Leatherman zu. Das qualifizierte mich für technische Einsätze im Kabarett Gernegroß.

Zur Lichttechnik: Man spricht von Kannen, auch wenn es Profiler sind.

Ich half beim Bühnenbau. Stelzenläufer mit Gasmasken hielten mich auf. Jetzt musste ich Leuten klarmachen, dass pyromanischer Budenzauber auf jeden Fall zu hoch gegriffen war. Ich hatte meine Schwierigkeiten mit den Vorschlägen selbstverliebter Regisseure und sich selbst inszenierenden Darstellern. Ich wollte kein Spiel mit Ausnahmezuständen, keine Exzesse der Hinfälligkeit in der Manier von sonst wem. Ein Messias im Anzug kam wegen mir nicht ins Haus.

Ich klapperte Anglerheime, Campingplatzschwemmen und Gartengaststätten am Main zwischen Frankfurt und Aschaffenburg ab. Mein Interesse galt auch verwunschen gelegenen Gaststätten, die von Griechen und Portugiesen geführt und von ihren Landsleuten als Identitätstanks genutzt wurden. Viele Einwanderer waren in der Unauffälligkeit mehrheitsgesellschaftlicher Arrangements verschwunden. Ihre Häuser hatten sie auf Klein- und Vorstadtränder gesetzt. Sie folgten anderen Präferenzen und beachteten andere Umgebungszeichen als die Eingesessenen, und sie fuhren gut mit dem importierten Wissen.

Manche Anglerheime wurden von trist-verkrachten Ehepaaren im Last Exit Style bewirtschaftet. Andere hatten bloß einen Ausschank. Da materialisierte sich mitunter eine schon lange nicht mehr tageslichttaugliche Gestalt im Halbdunkel eines Verschlags.