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2024-01-24 17:24:44, Jamal

© Jamal Tuschick

Schlafender Staub

Alle waren froh, wenn Opa zweimal im Jahr auf Gran Canaria sein Bein wundersam kurierte. Er hatte die Südküste der Insel vor ihrer massentouristischen Erschließung 1973 für sich entdeckt und mit dem Kauf einer Wohnung am Playa del Inglés Weitsicht bewiesen. Der Strand gehört zu San Bartolomé de Tirajana und in einer weiträumigeren Betrachtung zu Meloneras - einem Epizentrum des deutschen Fernwehs und Ferienfiebers im Zeitalter der Düsenflugzeuge.

Auf den Kanaren verbesserte sich Opas Gesundheit spontan. Das mediterran-subtropische Inselklima wirkte Wunder. Plötzlich konnte Opa wieder gehen, manchmal fast einen Kilometer ohne Pause.

Auch die über eine Bekanntschaft hinausreichende Verbindung mit einem Inselarzt, der sich auf Naturheilkunde spezialisiert hatte, lockte ihn immer wieder nach Gran Canaria. Doktor Sauras bestimmte Medikamente, Mischungen und Mengen mit einer Wünschelrute. Großvater schwor auf Sauras. Er ließ sich von ihm im Wünschelruten unterrichten und gab das Wissen in der Familie weiter.

Nach Opas Tod verkroch sich Vater immer wieder in der Ferienwohnung, ohne auch nur einen Stuhl auszutauschen. Er kaufte Mutter eine Wohnung im selben Haus. Die Wohnung seiner Eltern betrat er nach dem Tod seiner Mutter nie mehr. Am Tag der Beerdigung drehte er zum letzten Mal den Schlüssel im Schloss seiner Kindheit. Im Nachgang von Vaters Beerdigung betrat ich ein Museum. Die Exponate waren eingesponnen, die Dinge schienen im Staub zu schlafen.

Die Linien zwischen Arbeit und Leben waren unsichtbar. „Hoch die Hände, Wochenende.“ Das gab es nicht. Vater sagte: Ich arbeite nicht, um zu leben. Ich lebe, um zu arbeiten.  Er bestand darauf, wegen jeder Kleinigkeit gefragt zu werden. In der Regel packte er gleich mit an und stand schließlich allein da. Er wählte Arbeit als Ausrede, obwohl er gar keine Ausrede brauchte. Niemand interessierte sich für seine seelische Verkümmerung.

Vaters Strategien erschöpften sich in unbeachteten Akten der Vermeidung. Er war die Bedürfnislosigkeit in Person. Als Dulder erschien er manchmal noch unerträglicher als seine Gegenspielerin. Er lieferte Stillleben der Resignation und versteinerte als Denkmal der Entsagung. Fünfzehn Stunden in der Aluminiumgießerei die Hitze und den Sauerstoffmangel zu ertragen war für ihn eine Selbstverständlichkeit.