Opa war jähzornig und nachtragend - und konnte doch angenehm und großzügig sein. Zum ersten Mal seit Wochen betrete ich wieder seine Wohnung. Die 1970er Jahre sind darin eingefroren. Ich ziehe einen Finger durch den Staub auf dem Vertiko und die Erinnerungen stellen sich ein. Opa fing viel an und brachte vieles nicht zu Ende. Die losen Enden seines Lebens möchte ich zusammenfügen. Die Ritterburg, die er mir unfertig in den Garten stellte und die so blieb, während die winterharte Lebensbaumhecke ständig in Form gehalten wurde, fällt mir ein. Die Hecke steht starr vor einer Laubbläser-Lärmwand.
Opa und ich © Jamal Tuschick
Entzündete Existenzzahnhälse
Hanna umarmt mich selig. Sie wohnt mit Tochter Katinka, Hund Leo und Gatte Clemens zur Miete in einer Bausünde an der Bahnhofsstraße. Die Familie ist in G... so aufgeschlagen, als wäre in Berlin kein Platz mehr gewesen. Sie hat nichts mitgebracht, was vor Ort zählt. Hanna fühlt sich trotz entzündeter Existenzzahnhälse großstädtisch überlegen. Das fasziniert mich. Die Dreißigjährige ist an einer Karriere als Ballerina vorbeigeschrammt. Der Körper verweigerte die Tortur. Seine Waffe war der Schmerz. Er zwang Hanna zur Aufgabe.
Sie verbirgt ihre Schmerzen und das Leiden am Statusverlust nach Kräften. Regelmäßig wirkt sie als Jurorin und sonst wie in Ballettgremien mit. Das sadistische Programm ihrer aktiven Zeit überträgt sie auf die weichen Ziele der nachgewachsenen Elevinnen. Schäfchen heißen sie in der Sprache ihrer Abrichterinnen.
Hanna wirkt auf aparte Weise strapaziert. Sie zieht mich in den Garten, in meinem Kalender steht, ich sei in Frankfurt am Main auf Kaltakquise. Die Sprinkleranlagen in der Nachbarschaft springen gleichzeitig an. Hanna erzählt von ihren Nöten mitunter so anschaulich, so dass ich ihren Zustand wie unter einem Mikroskop erkenne. Die Gebärden der Sorge gleichen sich überall. Armut stellt sich aber in der Stadt anders dar als auf dem Land. Während der insolvente Städter die Hände in den Schoss legt, der Vorsorge entsagt und zum maulenden Zaungast wird, bleibt die ländliche Dürftigkeit tätig. Der verarmte Dorfbewohner lebt meist weiter im Eigentum. In meiner Gegend wohnt keiner zur Miete, mit dem man spricht.
Hoch in seinen Achtzigern schlurft der Hundertjährige an Hannas Gartenzaun vorbei. Er ist der Wirt des Eisensteiner Stierkopfs und der letzte Überlebende der Stierkopfschar. Man sagt seinem Vater zwanzig Töchter und Söhne nach. Die Wirkung des Schaustellers Tillmann Eisenstein, genannt Stierkopf, leuchtete seinen Zeitgenossen ein, nie hatten sie einen magnetischeren Menschen gesehen. Dass so einer nicht ordentlich leben konnte, da er aus dem Vollen wirtschaftete, wo andere ihre liebe Not hatten, lag auf der Hand. Die Unehelichen ergaben sich auf Geburtstagen, Beerdigungen und Dachböden. Immer hatte jemand Geburtstag. Musikzug, Chor, Volkstanzgruppe und Feuerwehr boten weitere Gelegenheiten. Jeder Anlass wurde zum Fruchtbarkeitsfest.
Katinka fährt Roller auf dem Bürgersteig. Leo vibriert zu meinen Füßen. Das Gras steht hoch in Hannas Garten. Nachbarn nehmen für die Zugezogenen die Post an und besprechen die Absender mit den anderen Alteingesessenen. Eingeladen fühlen darf sich eine neue Familie trotzdem nicht. Es wird nicht einfach ein Werkzeug über den Zaun gereicht, obwohl alle wissen, was fehlt und was gemacht werden muss.
Hanna schlägt um sich. Sie zu stechen, scheint die Lieblingsbeschäftigung aller Mücken zu sein. „Wir brauchen eine neue Waschmaschine, meine schleudert nicht mehr vernünftig“, verkündet sie. Wir. Hanna war Studentin, als sie sich für Clemens entschied. Er zog zu ihr. Selbstverständlich war es ihre Maschine, in die er seine Wäsche stopfte. Clemens hatte keine Haushaltsgeräte. Damals kam Hanna manchmal ein schlechtes Gewissen an, wegen all der Dinge, die zu besitzen sie nötig fand. Im Gegensatz zu ihr war Clemens Asket. Hanna fand es erst einmal gut und entkrampfend, dass er ihr Auto nutzte, ohne zu fragen, und das Benzingeld aus der gemeinsamen Kasse nahm. Fast immer, wenn sie es brauchte, rückte Clemens das Auto heraus. Oft war der Tank gerade leer.
Ich zappele unbequem in einer Liegestuhlfalle. Ich würde Katinka übernehmen, sollte Hanna etwas zustoßen und Clemens erwartungsgemäß außerstande sein, das Richtige zu tun. Zu spät erkannte Hanna in Clemens den von Grund auf erschlafften Charakter.