In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Antike Registriermaschine
Karolin lackiert sich die Nägel auf dem Balkon, das Geländer hat einen neuen Anstrich. Die Nagellackfarbe kam noch nicht vor. Karolin möchte auf dem Balkon essen. Sie wünscht sich die Rückkehr ins Lauschige und Flauschige.
Ihre Eltern übernachten weit weg in einer Pension, wenn sie Karolin besuchen. Sie haben schon ein Lieblingslokal in Frankfurt. Sie sind anhänglich und fest entschlossen, dem Leben ihrer Tochter einen spießbürgerlichen Drall zu geben.
Karolins Mutter animiert ihren Mann zum Jodeln. Karolins Ziehvater kann die Registrierkasse in Money jodeln. Karolins jüngste Halbschwester ist zum zweiten Mal schwanger. Das wird weiter nicht erwähnt und gilt als heikles Thema. Was heißt, weiter nicht erwähnt. Karolins Mutter hat kein anderes Thema und muss sich ständig auf die Zunge beißen, weil ihre Älteste noch kinderlos ist.
Sie behält Wayne im Prüfungsblick. Sie weiß auf den Tag, wie lange Karolin mit Wayne probt. An ihm liegt es nicht, er hat den Sperma-Test bestanden. Wayne verzieht sich ungebeten, er könnte mal wieder zwölf Schoppen an einem Abend im Gemalten Haus trinken.
Zuerst geht er ins L. Das ist ein gastronomischer Fingerhut unter dem Niveau der Schweizer Straße. Man kann das L kaum betreten. Die Wahrnehmung des Einstiegs dreht sich. Rasant erzählt, taucht man kopfüber ein und schlägt hart auf Terrakotta. Zwischen einer antiken Registrier- und einer zeitgemäßen Espressomaschine erscheint Wayne wie eingerahmt.
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Wie lang keiner mehr gefragt hat, ob Karolin Taschentücher einstecken hat. Diese Umsicht und Gerüche von Familie, Schule und dörflicher Überschaubarkeit. Wo man hundert Jahre lang immerzu Keimzeit-Fan bleiben konnte. Abba oder U2 ging auch.
Karolin war Fahrschülerin, das unterschied sie. Sie musste morgens vor allen anderen aufstehen. Sie stand an der dunklen Haltestelle und die Autos rauschten Volllicht vorüber. Als sie sich zum ersten Mal verliebte, hieß der Junge bloß Mario. Er fuhr mit ihr auf den Baumarktbauplatz von Ribnitz-Damgarten. Der Baumarkt war für Mario so großartig und ewig wie ein Schloss. Mit Rico fuhr Karolin zu einer Campingplatzbude. Sie weiß genau, wann das Glück ihrer Eltern aufgehört hat. Die Eltern sind in den üblichen Grenzen unzufrieden. Sie haben sich zusammengerauft. Der Geruch von Bier, Gras und Grill steigt in Karolin auf, wenn sie an Zuhause denkt. Als hätte sie nie etwas Einschneidenderes erlebt als an einem Sommerabend, der nicht abkühlt, zu den Leuten und ihren Kindern hinter den Sportplatz zu laufen, wo die Väter ostgemeinschaftlich grillten.