Souveräne Handelsdiktatur
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts karikieren drei gleichzeitig waltende Päpste das christliche Weltbild. Die Anarchie von oben eliminiert Sicherungen und Stabilisatoren der Herrschaft. Sie zerstört das Fundament der mittelalterlichen Gesellschaft. Die ritterliche Gefolgschaftstreue verliert ihre grandiose Dimension. Die Scholle verliert ihre Bindungskraft für die Leibeigenen. Das Patriziat verliert seine Sperr- und Riegelfunktionen. In seiner „Geschichte der Neuzeit“ zitiert Egon Friedell Petrarcas Schilderung am Hof des Papstes zu Avignon: „Alles Gute ist dort zugrunde gegangen … je befleckter ein Leben ist, desto höher wird es bewertet, und der Ruhm wächst mit dem Verbrechen“.
Heroenzeitalter des Philistertums
Friedell beschreibt die Machtvollkommenheit der Hanse (in ihrer mittelalterlichen) Blüte als „souveräne Handelsdiktatur“. Der Gelehrte diagnostiziert einen „geistfremden Fachdilettantismus“, der sich aus einer eingeengten Betrachtungsweise ergab; aus einem „zähen Kleben an der kompakten Materie des Daseins“. Friedell erkennt eine Epochenmarke in der kultischen Achtung des Werkzeugs; in der „Andacht vor dem Arbeitsgegenstand“ im „Heroenzeitalter des Philistertums“.
Das Brandenburger Tor im Baltischen Licht © Jamal Tuschick
Berittene Präriemonarchien
Wegen einer Versorgungsklemme nach achtmonatigem Eiseinschluss vor der kanadischen Küste anno 1601 unmutig gewordene, von Henry Hudsons hysterischer Entdeckerausdauer genervte Matrosen wagten eine Meuterei, als das Schiff wieder fuhr. Sie zwangen den Kapitän, dessen Sohn und alle Kranken in ein Boot. Ein Freiwilliger schloss sich an. Die Ausgesetzten trieben zwei Tage auf dem eisbehauchten Spiegel und landeten dann lediglich unterkühlt, aber überhaupt nicht festgefroren vor den Haustüren von Leuten, die sich Sakâw-iginiw-ok nannten und für ihr Leben gern in Schwitzhütten berauschende Dämpfe einatmeten. Unter ihnen waren hellhäutige Nachkommen von Europäern. Der genetische Einlauf war den Ansässigen in der Frobisher-Ära verpasst worden.
Martin Frobisher (um 1535 - 1594) war wieder so ein sechzehntes Kind armer Leute, das früh sehen musste, wo es blieb. Es heuerte auf einem Seelenverkäufer an, kaum dass es laufen konnte, und mauserte sich bald zum leidenschaftlicher Freibeuter - erst im Kampf gegen die englische Krone, dann vehement in ihren Diensten. Frobisher begann seine Karriere als Brigant auf den Kanalinseln. Er sah das Grauen in portugiesischen Kerkern, segelte als Vize unter Francis Drake, heiratete über seine Verhältnisse, schlug in einer Seeschlacht die Spanier fast im Alleingang, erhielt den Ritterschlag und verlor als rechte Hand von Walter Raleigh ein Auge im Gefecht.
Frobishers Bedeutung hing nicht vom Gelingen ab. Er scheiterte bei allen, mit den höchsten Erwartungen verbundenen und folglich populären Erkundungen der Nordwestpassage zu den orientalischen Märkten.
Hudson ordnete Quarantäne für die Hinfälligen an. Um sie ihrer Qualen zu berauben, brachte man sie bald um. Die Sakâw-iginiw-ok erkannten in Hudson und seinem Sohn Würdenträger aus der Geistersphäre und in dem Freiwilligen einen Diener. Entsprechend brachten sie die Gäste unter.
Hudson und sein Sohn bewunderten steinzeitliche Felsmalerei; Studien von Jagdszenen im Jungpaläolithikum. Sie dilettierten als Landschafts- und Porträtmaler und experimentierten mit landläufigen Drogen. Der Adlatus assimilierte sich in der Obhut einer Schamanin. Er überlebte eine Wiedergeburt, bevor er in einem sozialen Labyrinth die Orientierung verlor. Heftig war sein Gefühl, arm der Ausdruck. Er sollte als Muschelbruder am Galgen enden.
Arktische Vermeidung
Ab und zu zogen die Gastgeber:innen versprengte Europäer aus dem Busch. Die Neuankömmlinge staunten über blonde Sakâw-iginiw-ok und unbefangene couples de personnes de même sexe. Die Sakâw-iginiw-ok existierten in einem vielmehr wirtschaftlichen als verwandtschaftlichen Beziehungsgeflecht über tausend Kilometer. Es gab Kanuten-Kommunen, Distributionszentralen und Verladestationen. Der künftige Gründer der Hudson Bay Company erkannte in effektiven Abläufen die Hanse-Struktur. In seiner „Geschichte der Neuzeit“ beschreibt Egon Friedel die „Machtvollkommenheit der Hanse (in ihrer mittelalterlichen) Blüte als „souveräne Handelsdiktatur“.
Lamellen und andere Abschläge von Rohstücken fanden Verwendung in heimwerklich-zünftig hergestellten Komposit-Geräten wie Beile und Pfeile. Zweifellos hätte Friedell jenen „geistfremden Fachdilettantismus“ moniert, der sich aus einer eingeengten Betrachtungsweise ergab; aus einem „zähen Kleben an der kompakten Materie des Daseins“. Dem Gelehrten wäre die kultische Achtung des Werkzeugs und die „Andacht vor dem Arbeitsgegenstand“ aufgefallen. Diese Kanadier:innen verkörperten das „Heroenzeitalter des Philistertums“ kaum anders als es ihre europäischen Gegenspieler:innen in einem früheren Jahrhundert getan hatten. Die Sakâw-iginiw-ok zählten zur Ayisiniwok-Gemeinschaft (les Cris). In einem weiten Begriff von (auf jeden Fall nicht ethnisch definierter) Zugehörigkeit gab es halbstädtische Varianten, Aufschlüsse zu weißen Gemeinden, arktische Ablehnungen solcher Kontaminationen, subarktischen Separatismus, Fallensteller-Kooperativen und berittene Präriemonarchien.