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2024-02-16 15:00:20, Jamal

Und hier.

Ahrenshoop in den Zeiten der Pandemie © Jamal Tuschick

Stress in der Irrelevanz

„Von nahen Dingen und Menschen“ betitelt eine Glossensammlung von Hanns-Josef Ortheil. Dreh- und Angelpunkt der ausgebauten Notizen ist die Pandemie ab Februar 2020. Ortheil beschreibt die Impfeuphorie im Freundeskreis nach einer Zeit der bangen Separation. Er rezensiert die Manier der Sportberichterstattung und kritisiert den häufig unsinnigen Gebrauch des Wortes „definitiv“. Er notiert Einfälle. Mitunter haben sie den Charakter von Seitenhieben. Doch meist illuminiert ein freundliches Einvernehmen die Aufzeichnungen. Ein Reisebuch von Thomas Böhm erlaubt es Ortheil, die schöne Wendung vom „Campen im Nirgendwo“ unterzubringen.  

Ich nehme die Vorlage zum Anlass, mich in meinen eigenen Worten an die Pandemie zu erinnern.

Die ersten Shutdownszenen aus Wuhan - Ein offizielles Katastrophenvideo zeigt „Stille und Leere, als habe man auf die Stopptaste gedrückt“.

„Wuhan wurde angehalten.“

Auf der Suche nach einem freien Bett irren Infizierte von einem Krankenhaus zum nächsten. „Sie tragen das Virus überall hin.“ In welchem Horrorfilm haben wir das schon gesehen?

Die Zitate stammen aus Fang Fangs „Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt“, aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann, Hoffmann und Campe, 380 Seiten, 25,-

Fang Fang memoriert „all die unnötig Gestorbenen, all die traurigen Tage und Nächte“.

Der Shutdown stellt elf Millionen Bürger schlagartig unter Quarantäne. Ich konsumiere den Vorgang als TV-Nachricht. Obwohl die Katastrophenolympiade meinen Horizont übersteigt und ich keinen Vergleich anstellen kann, stellt sich noch nicht einmal Ratlosigkeit ein. Ich ordne das Virus-Drama dem globalen Süden zu und verknüpfe die Seuchensuada unspezifisch mit Defiziten, die wir nicht haben. Dabei sehe ich im Fernseher Leute, deren qualifizierter Opfermut in meiner Umgebung ohne Beispiel ist.

Bei uns sieht es bald so aus

Der ramponierte Schrat an der Kasse trägt Maske und erklärt ungefragt, dass ihm die Schließung drohe, da er nicht „systemrelevant“ sei. Im März 2020 rätselt die Welt. Die Koryphäen des Seuchenmanagements laufen sich erst noch warm. Shut- und Lockdown-Szenarien sind in der Erprobungsphase.   

Noch halten viele Leute Corona für etwas, dass nur die anderen kriegen. Westliche Experten stufen das Corona-Risiko in ihren Ländern als „mäßig“ ein. Gemeinsam mit dem Rest der freien Welt kritisieren sie die Chinesen. Aus China erreichen uns Bilder von gespenstisch leeren Straßen. Wir wissen natürlich, da ist alles gefiltert und von der Partei geklärt, vor allem jedoch auf Asien beschränkt; während die ersten europäischen, amerikanischen und australischen Freibeuter in Krankenhäusern Masken und Desinfektionsmittel einsacken. 

Der Seuchen Schönheit gipfelt in Motiven von Boccaccio und Botticelli  

Paolo Giordano rät uns, „der Pandemie einen Sinn zu geben“. Der Neurobiologe Martin Korte empfiehlt die Etablierung neuer Routinen. Jan Philipp Reemtsma bemerkt die Dysfunktionalität alter Routinen. Geert Mak sieht uns getroffen. Wer sind wir? Sind wir die Bullshiter auf der nordeuropäischen Empore; in ihrer Irrelevanz Begünstigte des Schicksals Geografie? Milo Rau sieht Chancen: Ein Paradigmenwechsel könne dazu führen, dass alte Gespenster ihre Spielberechtigung verlieren.  

„Vielleicht müssen wir (nach der Pandemie) gar nicht zurück in die Räume aus dem 19. Jahrhundert.“ (Milo Rau)

Social Distancing bringt familiäre Nähe. Zeit für die Kinder und zum Nachdenken entdeckt Bas Kast in seiner persönlichen Krisenschatztruhe. Corona verhilft zu einer Idee von kanadischer Eigentlichkeit. Man tritt vor das Blockhaus und ein Momentum der Seligkeit entfaltet sich.

Was könnte noch absurder sein als Stress in der Irrelevanz? 

„Grenzschließungen vermitteln den Eindruck von Entschlossenheit, aber in Wirklichkeit bewirken sie gar nichts.“

Das behauptet Anne Applebaum in ihrem Beitrag Die Regierenden wittern ihre Chance. Die Historikerin warnt. Regierungen nutzen Pandemien von jeher, um Freiheitsrechte zu verkleinern und machtherrlich zu expandieren.

„Wenn Menschen Angst haben, beugen sie sich.“ Anne Applebaum

Karl Heinz Götze bemerkt im freien Galopp komplementärer Kongenialität in seinem im Merkur erschienenen Aufsatz Der absolute Geist, die Cholera und die Himmelfahrt des Philosophen. Hegels Tod und Bestattung (1831): „Preußen machte (nach dem Choleraausbruch im angezeigten Jahr), was man am besten konnte. Man führte Krieg gegen die Krankheit, zunächst mit den schärfsten Maßnahmen. So schloss man anfangs Posen mit einem dreifachen Militärkordon ein in der vergeblichen Hoffnung, so das weitere Vorrücken der Krankheit nach Westen aufhalten zu können. Die Cholera lachte darüber und holte am 23. August 1831 keinen Geringeren als Gneisenau, den Oberbefehlshaber des Preußischen Heeres, im November des gleichen Jahres Clausewitz, den berühmten Strategen.“