„Könige gibt es viele auf der Welt, aber nur einen Michelangelo.“ Pietro Aretino
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„In der Renaissance (bedeutete) … Begabung dasselbe wie Vielseitigkeit.“ Egon Friedell
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„Als die Mailänder (Francesco Sforza) einen Triumphbogen bauten … (erklärte der Geehrte:) ‚Das sind abergläubische Einrichtungen der Könige, ich aber bin ein Sforza‘.“ Egon Friedell
Berliner Ensemble © Jamal Tuschick
Ozeanische Blutfeste
In den alten Tagen der Windjammer war Gewalt an Bord nichts Ungewöhnliches. Es herrschte eine barbarische Hackordnung. Ich will hier nicht über die Sexualität ausgehungerter, seelisch verwilderter und in vielen Fälle niemals von elterlicher Fürsorge gestreifter Männer reden, es war nun aber so, dass der verrückte Jesse nach dem Schiffsjungen Jim schnappte und der Angegriffene seine Verteidigung übertrieb, so dass Jesse bald eine rüde Seebestattung zuteil wurde. Der Kommandant, ein junger Deutschamerikaner namens Berman von Pechstein, übergab den jugendlichen Delinquenten auf der Norfolkinsel, einem Ausläufer der britischen Kolonie Australien, dem königlichen Staathalter Philip Gidley King (1758 - 1808).
Beim Abendessen in Kapitän Kings Haus - dem einzigen festen Gebäude weit und breit - lernte Pechstein den Walfahrer und Robbenschlächter Mayhew Folger kennen. Ihm war es gerade gelungen, Pitcairn wieder einmal zu entdecken und den einzigen weißen Überlebenden einer Mordserie, den auf Blutfesten bis zum Wahnsinn gläubig gewordenen John Adams, im Kreis seiner Liebsten zu treffen.
Pitcairn - die zuerst für menschenleer gehaltene Insel heißt so nach dem Europäer, der sie „entdeckte“. Die erste Positionsbestimmung von Philipp Carteret 1767 war so ungenau, dass die Insel wieder und wieder nicht gefunden wurde. Darauf setzte 1789/90 Fletcher Christian als Anführer der Bounty-Meuterer. Die Mannschaft irrte zwei Monaten über See, bis sich ihr Versteck zeigte. Sie fand es unbewohnt, doch nicht frei von Siedlungsspuren. Heute nimmt man an, dass ein Ökozid im 16. Jahrhundert zur plötzlichen Entvölkerung von Pitcairn führte.
Folger gab mit einer Taschenuhr an, deren Signatur bewies, dass sie einst dem legendär verschollenen Kapitän Jean-François de Galaup gehört hatte. Der bürgerlich geborene Galaup hatte im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg für die abtrünnigen Kolonist:innen gefochten und sich mit seinem Verve in das Gedächtnis von George Washington eingeschrieben. Als Ludwig XVI. 1785 Galaup mit den verschwisterten Fregatten Astrolabe und Boussole zum Großeinkauf nach Ozeanien schickte, verstärkte Amerikas erster Diplomat und Washingtons engster Vertrauter, der Botaniker und Ornithologe Milton Thunderbolt den wissenschaftlichen Stab. Thunderbolt ging in Brest an Bord der (Paul Antoine Fleuriot de Langle unterstellten) Astrolabe. Seine Biografin Margarete Mason stuft Thunderbolt als second in command ein. Die Expedition erreichte Port Jackson (Sydney) im März 1788. Thunderbolt demissionierte nach einem Eklat in der Kapitänskajüte. Galaup und Fleuriot stachen gen Neukaledonien in See. Fortan blieb die Welt ohne Nachricht von dem Unternehmen. The expedition vanished mysteriously, schreibt Mason.
Les deux navires disparaissent - 1789 querte Thunderbolt die nach Luis Váez de Torres benannte Meerenge zwischen Australien und Neuguinea. Auf einer Admiralitätsinsel erschreckte er Nachfahren hundert Jahre zuvor gestrandeter Chinesen.
„Nicht nur Artefakte belegen die Herkunft. Auch die Sprache des neuen Stammes bewahrt Wörter aus einer anderen Welt. Die Leute gehen nackt wie ihre Nachbarn. Was sie unterscheidet, scheint sie auszuzeichnen und bei anderen die Furcht zu wecken. Kein Abkömmling der Schiffbrüchigen sah je die Zivilisation und doch steckt sie in jedem.“
Im dritten Jahr der Französischen Revolution brachte Thunderbolt in Paris die verschollene Galaup-Expedition in Erinnerung. Der Marquis de La Fayette, auch er ein Veteran des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, trug ihm sogleich das Suchaktionskommando an.
Thunderbolt zögerte, die französische Hauptstadt war gerade der spannendste Platz auf dem Planeten. Lehrlinge spielten Kulturrevolution. Sie trugen Köpfe auf Piken durch die Gassen. Der König war zur Geisel in einer Geisterbahn der Ideen geworden, man hatte ihn in die Nationalversammlung gebeten. Thunderbolt stellte sich zu den Feuillants, er beobachtete die gegen das Schloss gerichtete, bis eben königliche Artillerie aus Marseille. Die zur Verteidigung des Monarchen bestimmte, in einem seit Jahrhunderten gültigen Treuebund eingeschworene Schweizergarde fraternisierte vorsichtshalber mit dem aufgepeitschten Volk. Die Grenadiere der Schweizer ließen sich ihre Bärenfellmützen in gespielter Gutmütigkeit abziehen, plötzlich war der Spaß vorbei. Eine Schießerei beschleunigte Thunderbolt. Er setzte über Leichen. Später hieß es, die Schweizergarde habe das Feuer in den Tuilerien eröffnet. Thunderbolt streifte seine dramatisch bordeauxrote Joppe ab.
Rot war die Farbe einer Schweizer Abteilung. Für einen Schweizer gehalten zu werden, bedeutete nun, von einem vulkanisch schwefelnden Mob über Steine geschleift zu werden. Die Kombattant:innen verweigerten den Pardon. In dem blutigen Theater traten sie als Furien auf. Solche Verlierer:innen, die vor ihnen krochen, um Mitleid zu erheischen, trampelten sie engagiert zu Klump. Wer sie von oben herab einschränken wollte, den stachen sie ab.
Die Zerstörungswut griff nach dem Louvre. Irreguläre Königstreue wurden von ihrer Verachtung für den Plebs gestrafft. Sie flogen so gestrafft aus Schlossfenstern.
„Das Kopfabschneiden ist allgemein zur Manie geworden“, notierte Thunderbolt später.
Ein Sansculotte sprengte ein Kabinett auf. Kammerfrauen purzelten zum Vorschein. Thunderbolt drängte an dem Revolutionär vorbei und rettete einen Schock Mesdames vor dem Mob. Im folgenden Jahr erreichte er die Salomonen, wo ihm ein entlaufener Sträfling von einem weißen Schiffsbrüchigen berichtete, der bald nach seiner Rettung starb. Der Geächtete zeigte Thunderbolt Gegenstände französischer Provenienz. Rasch war der Beweis erbracht, dass die Sachen weder von der Astrolabe noch von der Boussole stammten.
Thunderbolt entdeckte Schlachtengemälde auf abgezogener Menschenhaut. Er studierte die Skarifizierungen orientalischer Briganten. Blutdurst und Rachsucht hielt man in diesen Breiten für vornehm. Ein von Wut entstelltes Gesicht wurde als schön empfunden. Man reichte Köpfe und Glieder von Feinden Kindern zum Spielen. Im Kampf trank man in aller Eile aus Wunden schießendes Blut. Kanus imprägnierte man mit Blut.
Kein Missionar durfte sich sicher fühlen bei solchen Leuten. Zu diesem Schluss kam John Hunter, der zweite Gouverneur von New South Wales, in seinem Rechenschaftsbericht aus dem Jahr 1794. Er berief sich auf Thunderbolt, der, merkwürdig genug, Berman von Pechstein als Gewährsmann in Anspruch nahm. Späteren Reisenden stellte sich die Situation auf den Salomonen ganz anders dar. Sie schildern Völkerschaften von paradiesischer Gutartigkeit.
Eine Glocke, die zweifellos in Brest gegossen worden war, ging dann doch noch ab nach Frankreich als Katastrophensouvenir. Thunderbolt besuchte Bougainville. Er reiste zu den Îles de la Société. Auch sie wurden mehrmals entdeckt und wieder vergessen. Die erste Beschreibung lieferte 1606 Pedro Fernández de Quirós. Der Portugiese ging hart gegen eine leicht zu beschwichtigende Bevölkerung vor. Quirós befremdete die rasche Bereitschaft, einzulenken und zu verzeihen. In seiner Darstellung erscheinen die Leute leichtsinnig. (Auch Thunderbolt registrierte die Nähe von Gutmütigkeit und Gewaltausbrüchen.)
Quirós sah sich von Gott in die Pflicht genommen, das unchristliche Verhalten abzustellen. Er fuhr mit einem Missionsauftrag und wähnte sich in Reichweite der von Ptolemäus für gewiss gehaltenen terra australis incognita. Auf einer Vanuatu-Insel gründete Quirós Nova Jerusalem.
Viele Landnahmen in Lateinamerika paarten sich mit Heilserwartungen der Kolonist:innen. Die Vorstellung, auf der Südhalbkugel (unter einem „neuen Himmel“) noch einmal eine gottgefällige Welt vorzufinden, stammte aber aus älteren Quellen. Von Amerika war man überrascht worden, Australien erwartete man nach antiken Angaben zu finden.
Morgen mehr.