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© Jamal Tuschick
Wasserkunden
Montagnachmittag kommen die Patienten zu Silvio, lauter Fünfzigjährige, die Wasser trinken. Hinter ihnen liegen Ehen und Krankheiten, an denen man sterben kann, und das Gefühl der Unverwüstlichkeit. Diese Männer waren mal gut beieinander, man sieht das noch. Sie bekleideten Posten. Sie sind nun „ausgesteuert“, wie sie sagen. Sie arbeiten nicht mehr, abgesehen von Bruno, der Taxi fährt, weil er das braucht. Bruno erfüllt besondere Aufgaben in dieser Gemeinschaft. Er vermittelt zwischen den Patienten und den Gesunden, die man sich sonst halb verächtlich vom Hals hält. Die Patienten separieren sich an ihrem Tisch, wo sie ihre Krankengeschichten durchhecheln von den frühen Symptomen über das Stadium der Ungläubigkeit nach den Diagnosen, den vergeblichen und den hilfreichen Operationen bis zu den ersten und den sich daran anschließenden Erlebnissen der Invalidität, die sie zu Kennern der Materie und der Wartezimmer gemacht haben, so wie zu Spezialisten der Fernsehprogramme, zu gewieften Zeitungslesern und umsichtigen, jede Veränderung ihrer Umgebung skeptisch aufnehmenden Spaziergängern. Alle Patienten teilen die Erfahrung, plötzlich nichts mehr zu melden gehabt zu haben. Die Entfremdung von den Kollegen, der widerwillige, von ihnen selbst angestaunte Eintritt in die Invaliditätssphäre, gleicht dem Verlust der bürgerlichen Rechte. Der Prozess wurde von Hoffnungen unterbrochen, kurzfristigen Übergängen auf die andere, lange immer noch vertrautere Seite ... und von späten Kämpfen. Inzwischen ist man klüger. Man rechnet mit nichts mehr, was sich ernsthaft als Verbesserung beschreiben ließe. Man diskutiert vielmehr die Tagesform. Man ist froh, schmerzfrei sitzen zu können. Man ist Betrachter der Gestalter und des Gestalteten.
Silvio nennt seine Patienten Wasserkunden. Murat isst in Silvios Kneipenküche ein Kotelett ganz manierlich, mit Pausen bei sorgsam abgelegtem Besteck, und trinkt Bier aus der Flasche, zwei, drei, vier Flaschen, wie es sich gehört. Er nagt den Knochen ab und wäscht sich die Hände unter einem alten Kran. Bei Silvio kehrt die Normalität in Murat ein. In der Küche achtet er darauf, nicht im Weg zu stehen, er verschüttet nichts und er beachtet die Höflichkeit gegenüber Silvios Mutter.
Silvio versäumt es nie, Murat mit einer schlichten Frage aufzuhellen. Er akzeptiert Murats Ausführlichkeit, der Mann muss immer gleich alles erwägen. Er ist gezwungen, genau zu sein. Er kann sich nur grundsätzlich äußern oder gar nicht. Von sich aus bleibt er stumm.