Phantasmagorische Zwiesprache
Sie wachsen in förmlichen Elternhäusern auf und erleiden in parallelen Entwicklungen die Implosionen der Entfremdung. Akut bedroht sind sie von seelischer Verkümmerung. Nur einmal überragen sie den Schemarahmen ihrer Generationskohorte: als Gewinner:innen von Nebenpreisen bei einem Aufsatzwettbewerb. Die unscheinbaren Sieger:innen freunden sich an. In der Exklusivität einer phantasmagorischen Zwiesprache verbinden und erhöhen sie sich.
Haruki Murakami, „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“, Roman, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont, 640 Seiten, 34,-
Paradiesische Auen
Namenlos bleiben beide. Die Geliebte erscheint als Schöpferin einer Welt, der Geliebte erschöpft sich in der Rolle des Chronisten. Im Zentrum der gemeinsam gestalteten Fiktion steht eine Stadt, gesäumt von einer acht Meter hohen Mauer. Ein Fluss teilt sie. Seine Ufer sind paradiesische Auen. Gehörnte Fabelwesen weiden von früh bis spät vor den Toren. Die menschlichen Bewohner sind Internierte.
„Wer die Stadt betritt, darf keinen Schatten haben, doch wer keinen Schatten hat, darf die Stadt nie mehr verlassen.“
Die Geliebte erklärt: „Mein wahres Ich lebt dort und ist in der Bibliothek beschäftigt.“
Die Tochter eines Deklassierten, ihr Vater fiel einst wegen eines „Missgeschicks“ in Ungnade, führt ein Traumtagebuch. In langen Briefen teilt sie sich dem Geliebten mit. Er reagiert mit der gebotenen Ausführlichkeit. Schließlich endet der Schriftverkehr im Verstummen der Geliebten. Das Ausbleiben der Liebespost stürzt den Erzähler in eine lebenslange Krise.
Die junge Frau entzieht sich auch räumlich dem - ihr heillos verfallenen - Verehrer. Fortan schwelgt er in Erinnerungen an einen Erlebnisrausch.
In der Handlungsgegenwart memoriert ein Buchhändler in seinen mittleren Jahren so monoton wie obsessiv die Sensationen einer verlorenen Zeit. Gemessen am Anpassungsdruck in einer konformistischen Gesellschaft führt er - einigermaßen unangefochten - ein beschauliches Junggesellen-Dasein. Die Zeitgenossen ignorieren seine soziale Lethargie. Er beschreibt seine Verhältnisse als bescheidene Existenz in einer vormals besseren Gegend. Dabei wohnt er lange in dem Tokioer Hotspot-Bezirk Nakano, bekannt auch als Otaku-Himmel. Der Nakano Broadway und die Nakano Sun Mall Shotengai üben eine magnetische Wirkung auf Antiquitäten- und Raritäten-Sammler:innen aus.
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Gelegentlich befreit der Erzähler sein Bewusstsein „aus dem Käfig seines Körpers“. An seinem fünfundvierzigsten Geburtstag stürzt er in ein Loch und verliert das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich in einer anderen Welt.
In Haruki Murakamis magischem Realismus erscheint das Surreale oft banal-real. Es verbindet sich mit einer Topografie voller irdischer Marken.
Nach dem Unfall lässt sich der Erzähler - fünf Zugstunden von Tokio entfernt - in einer ländlich-alpinen Gegend nieder. Er übernimmt die Leitung einer öffentlichen Bibliothek. Sein Vorgänger entpuppt sich als Geist. Direktor Koyasu zieht Röcke Hosen vor.