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2024-02-28 12:07:34, Jamal

© Jamal Tuschick

Die Gießordnung

Man staunt, wie klein die Gruppen waren, die unseren Anfang im Jungpleistozän überlebten. Nomadische Beutemachergemeinschaften betrieben (waffenlose) Ausdauerjagd nach dem Prinzip andauernder Beunruhigung. Man scheuchte das Wild, bis es sich der Erschöpfung ergab. Heute noch hetzen isolierte Ju/’Hoansi-Gruppen im Nordosten Namibias Tiere zu Tode.
„Die besten Menschen bewahren sich einen nackten Hintern“, glaubte Paul Theroux. Die „goldfarbenen“ Ju/’Hoansi erschienen in ihren angestammten Verbreitungsgebieten als Nachfahren von Migranten. Man weiß nicht, wen sie verdrängten, doch kennt man ihre europäischen und indigenen Verfolger. Lange überlebten sie in Vermeidung schwerer Auseinandersetzungen als Spezialisten für trockene Gebiete, um heute in Fetzen aus deutschen Altkleidersammlungen an afrikanischen Stadträndern zu verelenden.

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Keno stromert seiner Oma Betty hinterher über den Friedhof von Ö … Er lauscht dem Gemurmel seiner Vorfahren. Vom Rascheln der Blätter fühlt er sich ins Gebet genommen. Keno ist vorerst der letzte männliche Nachkomme einer schwäbischen Dynastie von Schmieden. Kein Familienname kommt in dieser Gegend häufiger vor als Schäufele. Betty ist eine geborene Schäufele. Das bedeutet hier viel. Schäufeles wurden in Ö … schon unter die Erde gebracht, als der Friedhof noch gar nicht existierte. Der älteste Grabstein vor Ort erinnert an eine Generation, die bereits vor dreihundert Jahren zu den langjährigsten Bewohnern zählte.

„Die früheren Mittel, um über lange Generationen hinweg ähnliche dauerhafte Wesen zu erreichen“, sagt Nietzsche, „waren unveräußerlicher Landbesitz und die Verehrung der Ältesten, von denen man sagte, sie seien jung wie Götter und Helden (als Vorfahren der Menschheit) gewesen.“

Da kein genetisches Programm diese Hochform reproduzieren kann, müssen die Mittel ständig „erfunden“ werden. Das kulturelle Gedächtnis (Maurice Halbwachs) greift ein. Der Begriff schaufelt biologische Erklärungen in die Tonnen der Kultur.

„Mit jedem alten Mann, der stirbt, verbrennt eine Bibliothek.“ Amadou Hampâté Bâ

Bettys Anweisungen folgen dem Kernfamilienprinzip. Zuerst werden die Gräber ihrer Eltern und Geschwister gegossen. Nach ihnen kommen Bettys Tanten und Großtanten an die Reihe. Deren Männer liegen zwar - abgesehen von den sonst wo unter die Erde gebrachten Weltkriegsteilnehmern - in den Gräbern der Tanten und Großtanten, haben aber kein eigenes Recht auf Beachtung. Oft starben sie so früh, dass sie für Betty Fremde blieben. Betty wuchs nicht zuletzt in einer Gemeinschaft evangelischer Witwen auf. Im besten Fall waren die im Schwestern- und Cousinen-Kranz verbundenen Solistinnen ihren verstorbenen Männern dankbar für Renten und Pensionen. Kein Mann wurde vermisst oder in ehrendem Andenken gehalten. Es grassierte die dezent-üble Nachrede.

Keno trainiert mit allem, was wenigstens einigermaßen schwer ist und so auch mit den Friedhofskannen. Er pumpt mit stupider Ausdauer, während Betty ihre Schwätzchen hält.