„Die Kunst lebt vom Zwang und stirbt an der Freiheit.“ André Gide
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„Der Verzicht auf Ekstase ist ein Verrat an unseren wahren Möglichkeiten.“ R.D. Laing
© Jamal Tuschick
Zum Rotwein die Redundanz
Karl Marx sprach von einer passiven Verfaulung sozialer Schichten. Er beschrieb so das Lumpenproletariat, das eher in die Reaktion als zur Revolution drängt. Vorgänge des Alterns lassen sich auch so ausschildern. Vitale Prozesse enden zu Lebzeiten. Der Körper gibt nach, er zeigt den Kadaver, der in ihm steckt, schon einmal vor.
Kompostierung setzt ein. Zum Rotwein die Redundanz. Aileen eilt dem Niedergang eines in Academia grantig ergrauten Historikers ahnungsvoll voraus. Ron verschleißt große Worte für Geringes. Er überhöht einen Wunsch nach gefahrloser Nähe zu einer vierzig Jahre Jüngeren. Er übertreibt seine Weltläufigkeit. Ron bestimmt einen schottischen Archipel zum Schauplatz der Flitterwochen. Das Paar landet auf einem bemoosten Flecken im Meer. Abgeschiedener ist wenig auf dieser Welt. Im Kreis der Einheimischen überlebten Gesetzlose einst königliche Verfolgung.
Aileen genießt Alleingänge, wohl wissend, dass sie in ständiger Beobachtung ihres Mannes am Strand elegische Posen einnimmt.
Erratische Felsen. Bizarre Treibgutassemblagen. Die Tiefsee der Metaphorik. Ron markiert den Mythensüchtigen. Er strapaziert die Sirenen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Aileen gibt die paradox vor dem Meer sich ängstigende Schaumgeborene im Stil der Venus von Botticelli. Die kunstgeschichtlichen Echos wirken mechanisch. Jeder ergreifende Blick und alle erotischen Degustationen werden zu Stichwörtern in einer mangelhaften Performance.
Drei Monate später
Seit Wochen schwimmt er jeden Tag in den Schmerz, wenn er seine zweitausend Meter Minimum absolviert, als gäbe es sonst nichts. Er mobilisiert sich und hält sich an seiner relativ guten Form fest. Er betrachtet sich wie man eine vom Einsturz bedrohte Baracke betrachten könnte.
Im Wasser spielt er mit der Gedankenlosigkeit und Fetzenhaftigkeit von Spruchweisheiten und Halbsatzbinsen, die aus den Ätzbädern unangenehmer Erinnerungen aufsteigen. Alles halb so. Nichts wird so. Morgen ist auch noch. Früh krümmt sich. Was du heute kannst. Fast nichts formuliert sich zu Ende im Dauerlauf von Rollwende und Tauchphase. Fast nichts mehr ist der individualisierenden Rede wert, es sei denn die Frühstückseikonsistenz.
Jederzeit könnte er, was auch immer, ebenso gut lassen.
„Ein alter Mann, der immer noch denkt, ist eine Groteske. Greise müssen fertig sein”, sagt ein Dichter. In der räumlichen und zeitlichen Umgebung der ertüchtigenden Praxis überkommt den Sechsundsechzigjährigen eine trockene Geilheit. Die Libido kriecht in veralteter Frische hinter ihrem Ofen hervor. Ron animiert sich mit jungen Müttern, die zuhauf unter sich und den Rentnern sind, bis die Schule aus ist und ein Radau der losgelassenen Pubertät den nächsten Umsturz ankündigt. Hallende Wasserklangbilder untermalen die Stunden des geschwätzigen Ausschlusses elementarer Störungen.
Sein vom Chlor und von der Anstrengung getrübter Blick schnappt aus Versehen nach einer Person mit dem Bewegungsbild eines Kampfhundes. Wie sie zurückguckt: das findet er übertrieben bissig. Er steigt um in das Warmwasserbecken und macht noch Gymnastik.