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2024-03-02 17:28:36, Jamal

Bei uns daheim am Küchentisch hieß es stets: Türken können so was nicht. Das ist der Lase im Großvater. Doch auf dem Schauplatz der Erfolgsgeschichte gab es sonst keinen, der wusste, dass es Lasen überhaupt gab.

Potsdamer Platz 2013 © Jamal Tuschick

Der Zauberkasten

Paradies sei nur ein anderes Wort für Zaun, sagte mal jemand, der glaubte, als promovierter Weltmann mir haushoch überlegen zu sein. Ich habe nur Mittlere Reife und weiß nicht mehr, in welcher Sprache Paradies angeblich Zaun bedeutet.

Ich lebe in einem Paradies, das Wort behauptet sich seit Jahren gegen jede Einrede.

Mein Paradies ist unsichtbar für Fremde. Sie sehen Hallen, Maschinen und Menschen, die gemächlich ihrer Arbeit nachgehen. Auf dem Hof stehen Autos und Fahrräder und alle möglichen mobilen Behälter, von denen manche seit den 1950er Jahren eingesetzt werden.

Empfange ich einen potenziellen Kunden zum ersten Mal, beginnt seine Bearbeitung im Konferenzraum. Meine Schwägerin Nina bietet ihm Kaffee und Wasser an. Bevor sie meinen Bruder heiratete, war sie Flugbegleiterin. Es macht ihr Spaß auf unserem Außenposten der Zivilisation Flair in den Kasten zu bringen.

Zauberkasten ist Familiensprech. Wir nennen so die Fabrik, die mein Großvater von einem Franken übernommen hat, der als Zugezogener in der ersten Generation auch keinen leichten Stand hatte in einer Gemeinde, die im kleinsten Winkel zwischen Thüringen und Franken an einem hessischen Zipfel hängt.

Heute liegt der Kasten im Gewerbegebiet von Kraichhain, aber als Großvater aus einem türkischen Dorf ins Grenzland kam, stand die Fabrik für Schuhbodenteile noch nicht lange auf einer struppigen Wiese, die an landwirtschaftlich genutzten Flächen grenzte. Wegen einer Schwermetallkontamination des Bodens war der Freiraum nicht zu Acker gemacht geworden. Dem Fabrikgründer war der verseuchte Grund egal. An den örtlichen Gepflogenheiten vorbei, gab er Leuten, die vorher nur als Tagelöhner existiert hatten, eine Perspektive. Ich erinnere mich an lemurenhafte Erscheinungen in meiner Kindheit, an Männer mit verbrannten Gesichtern. Sie verschwanden aus meinem Leben im Zuge eines allgemeinen Aufschwungs. Manchmal frage ich mich, wo die Verlierer gelandet sind. Sie werden kaum alle rechtzeitig gestorben sein.

Für die Leute hier sind wir Türken, obwohl es keine ethnische Verbindung zwischen meinem Volk und den Türken gibt. Wir sind Lasen, ursprünglich aus Gurien, einer Schwarzmeergegend in Westgeorgien; auf den Wegen von Flucht und Vertreibung in die Türkei geraten. Auf Türkisch heißt das Schwarze Meer Karadeniz. Meine Großeltern stammten aus der Nähe von Düzce. Auch meine Eltern sind da geboren. Mein Vater kam als Kind nach Deutschland, meine Mutter verbrachte ihre Kindheit und Jugend in der Türkei.

Großvater behauptete, eher Georgier als Türke zu sein, er wusste wenig von der Kultur unserer Vorfahren. Er war in Armut und Verachtung aufgewachsen, ich will mir die Details nicht ausmalen. Als junger Mensch hatte er es nicht für möglich gehalten, dass so etwas Geringwertiges wie Arbeit Geld Wert war.

Großvater hatte keine Sehnsucht nach der Türkei. Ich glaube, er verbarg eine Scham, weil er seinen Lasen unwiderruflich abhandengekommen war.

Ich bin natürlich Deutscher, meine ethnische Herkunft ist für mich ein Eldorado der Möglichkeiten.

Man kann mich kulturell entwurzelt finden. Was habe ich davon, mich als Lase von einem Türken zu unterscheiden. Ich bin in Deutschland geboren, habe eine Deutsche geheiratet. Meine Töchter sind Unternehmerkinder, stark angehobener Mittelstand. Ich weiß auch nicht warum, sobald es an der Tür meiner Herkunft klopft, bin ich als Nächstes beim Status. Man muss sich das klar machen, mein analphabetischer Großvater hat als ungelernter Arbeiter angefangen. Er marschierte siebzehn Jahre bis zur Unternehmensspitze. Mit viel Geld schüttelte er die Erben des alten Franken ab, keine Ahnung, wie er das geschafft hat. Es gibt eine Story von einem Schatz im Luftschutzbunker, den Großvater sich unter den Nagel gerissen haben soll. Das ist eine andere Geschichte.

Bei uns daheim am Küchentisch hieß es stets: Türken können so was nicht. Das ist der Lase im Großvater. Doch auf dem Schauplatz der Erfolgsgeschichte gab es sonst keinen, der wusste, dass es Lasen überhaupt gab.

Nun führe ich die Geschäfte im Kartell der Geschwister. Am Geschäft beteiligt sind meine Schwester Lika und ihr Mann Sasa sowie mein Bruder Levan und seine Frau Nina. Alle arbeiten gut mit, der Streit hält sich in Grenzen. Wir fahren zwar getrennt in Urlaub, essen aber gemeinsam zu Mittag in meiner Wohnung.

Jeden Tag hält ein Kantinenersatzfahrzeug auf dem Hof, zur Versorgung der Belegschaft mit belegten Brötchen und Salaten. Das Angebot entspricht dem Lebensstil junger Produktionshelfer, die frei von jeder Schwerfälligkeit sind. Ihre Eltern kamen aus Kasachstan und anderen Notstandsgebieten mit der Idee nach Deutschland, schlimmer als in der Sowjetunion könne es für sie nirgends kommen.

Es kam schlimmer. Ingenieure, Lehrer und Bibliothekare erlitten in der neuen Heimat den totalen Statusverlust. Sie stabilisierten sich im Stolz auf jede Arbeit, die sie kriegen konnten. Ich beschäftige vereinzelt auch noch die erste Einwanderergeneration, die Mütter und Väter der Leichtfüßigen. Jeden Morgen absolviere ich eine große Betriebsrunde und stelle mich den Fragen an den Chef.

Meine Großeltern sind sehr alt geworden in der Fabrik. Meine Eltern haben sich in ihren Sechzigern rigoros zurückgezogen. Sie sind sogar weggezogen und leben jetzt auf der anderen Seite des Zauns in Unterfranken. Das ist untypisch wie Vieles in unserer Familie. Wie man sich dreht und wendet, wir sind nie typisch für etwas. Die meisten Lasen sind sunnitische Muslime. Auch meine Großeltern wuchsen unter einer muslimischen Decke auf. Es gab jedoch einen unbelebten christlichen Vorbehalt. Angeblich waren unsere Vorfahren wie die Mingrelier orthodoxe Christen. Ich weiß nicht, wie heimlich sie Christen waren. Mir rätselhaft bleibt, warum das erzählt wurde - dieses mit nichts auffüllbare Reservoir eines überall hin verschrägten Andersseins. Nicht Türke, nicht Muslim ...

Wenn ich im Konferenzraum einen Kunden empfange, erwähne ich gern, dass wir am Esstisch und im Esszimmer meiner Eltern sitzen. Der Kanzleistil der Buchhaltung bestimmte das Privatleben. Ich sehe immer noch den von Jahr zu Jahr größer werdenden Fernseher in einer Ecke.

Großvater war Jahrzehnte kaum über den Fabrikhof hinausgekommen. Er wohnte in einem mit Sperrholzwänden und Paravents parzellierten Lagerraum, bis seine Frau nachkam und die Familie eine Wohnung auf dem Betriebsgelände bereits in der Chefsphäre bezog.

Der alte Franke setzte im Kasten eine Transparenznorm durch, die großflächige Überwachung gestattet. Der Bürotrakt ist ein Glaskasten - eine Kolossalvitrine, in der man sich nicht verstecken kann.

Ich ziehe einen Finger durch Staub und Erinnerungen stellen sich ein. Mein Vater fing viel an und brachte vieles nicht zu Ende. Die Spielburg, die er unfertig für mich in den Garten stellte und die so blieb, bis er das Feld räumte, während die winterharte Lebensbaumhecke ständig neu in Form gebracht wurde, fällt mir ein. Die Hecke steht starr vor einer Lärmwand, erzeugt von Rasenmähern und Laubbläsern.