„Europa ist meine Flaniermeile.“
Die Autorin engagiert sich in besonderer Weise für den Aufbau einer transnationalen Bürger:innengesellschaft. Die Literatur hält Dana Grigorcea für eine Förderin der Empathie. Sie leistet ehrenamtliche Künstler:inneneinsätze in ihrem Flüchtlingshilfswerk in Zürich, wo die gebürtige Rumänin mit Familie lebt.
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Fröhlicher Wortsalat
Eine Person, deren Weltläufigkeit das Polyglotte entbehrt, scheint gleichwohl alles zu begreifen, was man ihr auf Italienisch, Deutsch, Englisch und Französisch vorträgt. Noch erstaunlicher ist die Fähigkeit, mit einem „fröhlichen Wortsalat“ dem anspruchsvollen Publikum zufriedenstellende Entgegnungen zu liefern.
Die Skizze ergibt sich in Beobachtungen der Schweizer Schriftstellerin Dora. Sie schildert so ihr Kindermädchen. Dora weilt - gemeinsam mit ihrem Sohn Loris und eben der vortrefflichen Macedonia - in einem mondänen Badeort an der Riviera di Levante. Santa Margherita Ligure, bekannt als Perle von Tigullien, wird von ihren Bewohner:innen auch schlicht „die Heilige“ genannt.
Dana Grigorcea, „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“, Penguin, 220 Seiten, 24,-
Die Drei sind im Hotel Metropole untergekommen. Dora genießt eine Förderung als Stipendiatin der Adolph-Wehrli-Stiftung. Affiziert vom „Anblick der Dattelpalmen“ vor dem Fenster unternimmt sie an einem „ligurischen Schreibtisch“ Gedankenausflüge bis nach New York. Sie folgt den Spuren des Bildhauers Constantin Avis, der 1926, beflügelt von großen Erwartungen, von Paris nach New York auswandert. Avis erreicht Amerika in Erwartung einer Einzelausstellung in der Galerie Milner. Doch Max Milner ist plötzlich verstorben.
Avis erkundet die Stadt. „Ich gab mich den Wegkapriolen hin, der göttlichen Lenkung, frei von trivialer Ungeduld.“
Die Expeditionen des nonchalanten Helden vollziehen sich in einem Fluidum zwischen Jugendstil - als einer verflossenen, doch noch bildbestimmenden Mode - und Neuer Sachlichkeit. Avis erscheint aerodynamisch beschwingt. Er passiert exquisite Herrenausstatter und elegante Friseursalons. Seine prekäre Lage lässt ihn eine Karriere als Eintänzer erwägen.
Er folgt einer jungen Frau. Avis kennt die aus Hutchinson im US-Bundesstaat Kansas gebürtige Lidy Maenz als Mitarbeiterin der Galerie Milner. „Anmutig“ findet er Miss Maenz in ihrem kastanienbraunen, extrem taillierten Schneiderkostüm. Indes verkörpert die Schauspielerin Alba Fantoni sein Ideal. Die Berühmte begegnete ihm zuerst auf der Überfahrt. Sie ist im selben Hotel wie Avis abgestiegen. Der Verehrer glaubt nicht an einen Zufall. Er neigt dazu, in beliebigen Emanationen des Alltags persönlich adressierte Schicksalszeichen zu entdecken.
Avis blüht in der Phantasie seiner Schöpferin auf. Dora wird von nächtlichen „Offenbarungen“ heimgesucht. Gelegentlich wechselt die Erzählerin das Thema. Wie zum Diktat bestellt, notiert sie Lebenslaufstationen einer Sizilianerin, die als Stammgast im Hotel Metropole residiert. In Terrassenlaune vertraut die Dame eine keineswegs spektakuläre Existenz Doras schriftstellerischer Sorgfalt an.
Dora plaudert aus dem Nähkästchen ihres Liebeslebens. Sie wehrt sich gegen den Vormarsch eines bewährten Liebhabers. Dessen Wille zur Verbindlichkeit untergräbt Doras Reserve allmählich.
Am Ende erörtern Expert:innen im Rahmen einer Gerichtsverhandlung die Frage, ob es sich bei dem „Bronzegegenstand“, den Avis aus Europa mitgebracht hat, um eine Originalplastik im Sinne des Gesetzes handelt. Die Frage, was Kunst definiert, geistert durch den Roman.
Aus der Ankündigung
Voller Hoffnungen und Sehnsüchte reist der junge und aufstrebende Bildhauer Constantin Avis 1926 nach New York. Ein einflussreicher Galerist will ihn unter seine Fittiche nehmen und in dieser Stadt der Träumer und Macher ganz groß herausbringen. Beflügelt von einer aufkeimenden Liebe und der Aussicht auf Erfolg, schwebt er durch dieses neue Leben und droht dabei, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Denn wie weit kann ihn seine Kunst wirklich tragen?
Ein ganzes Jahrhundert später versucht Dora, diese Frage zu beantworten. Im beginnenden Frühling an der ligurischen Küste schreibt sie an einem Roman über Constantin Avis. Gemeinsam mit ihrem Sohn und dem Kindermädchen sucht sie hier die Ruhe, die ihr im Alltag als Künstlerin und Mutter stets fehlt. Doch je tiefer sie sich hinabgleiten lässt in diese andere Welt, desto stärker vermischt sich ihre Geschichte mit der von Constantin, und sie begreift, dass sie seine Fragen nur mit ihrem eigenen Leben beantworten kann.
Mit unvergleichlichem Charme erzählt Dana Grigorcea von der Verquickung des Lebens mit der Kunst, in einer Sprache von überwältigender Kraft und schwebender Leichtigkeit.
Zur Autorin
Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren, sie ist Germanistin und Nederlandistin und lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Zürich. Die Werke der rumänisch-schweizerischen Schriftstellerin wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Ihr Roman »Die nicht sterben« wurde 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert und 2022 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Dana Grigorcea ist Trägerin des rumänischen Kulturverdienstordens im Rang einer Ritterin.