In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Das Ohr der Oma
Keno schließt die Lücken der von seiner Oma fast vollständig gelösten Kreuzworträtsel. Betty war auf der höheren Schule. Sie durfte einen anspruchsvollen Beruf ergreifen und arbeitete als Sprechstundenhilfe, bis sie 1933 ihren Arbeitsplatz für einen Mann räumte. Der Nazi-Slogan ist ein Textbaustein in Bettys autobiografischen Erzählungen. Ein von Affirmation glänzend überkröntes Bedauern glaubt Keno herauszuhören; ein Echo des Verzichts für das Große und Ganze der in der Gegenwart von 1999 schwer vermissten ‚Volksgemeinschaft‘.
Borealer Wald mit vier Buchstaben ist Taiga. Keno denkt an eine Thermokarst-Vertiefung in der sibirischen Taiga: den Batagaika Megaslump.
Die Taiga taut. Im auftauenden Permafrostboden findet man Steinzeit-Equipment und fossile Arten aus einer Vorwendezeit, die mit dem Pleistozän vor zwölftausend Jahren endete.
Erst zwangen „körperliche Einbußen“ Betty zu immer längeren Pausen. Inzwischen unterbricht die Hofherrin nur noch selten die Ruhephasen. Tagsüber ist sie zu schwach für beinah jede Beschäftigung und nachts kann sie nicht schlafen. Als das Ohr seiner Oma kennt Keno alle Nuancen.
Betty rückt Siesta in phonetische Anführungszeichen. Sie deklassiert das ausländische Modewort mit einer abweisenden Betonung. Sie legt es in einem Fach des übertreibenden Sprechens ab. Nach den Begriffen der gebürtigen Pforzheimerin hat Siesta im Wortschatz einer württembergisch assimilierten Badenerin nichts zu suchen. Die Herabsetzung birgt und verbirgt die schwäbische Kritik an einer mediterranen Praxis mit institutionellem Charakter. Sich in einem bürgerlichen Rahmen tagsüber liegend ausruhen zu dürfen, erklärt ausreichend, weshalb der Italiener (für Betty ist Siesta ein Schlüsselbegriff des italienischen Schlendrians, Spanien hat sie überhaupt nicht auf dem Schirm), „der uns im Krieg im Stich gelassen hat“, bisher auf keinen grünen Zweig gekommen ist. Im Tross der Vorurteile irrlichtert alles Mögliche von der deutschen Italiensehnsucht über den Wir-sind-wieder-wer-Italien-Urlaub mit der aufreibenden Anfahrt über den Brennerpass, kochenden Kühlern und flirrenden Hitze über der Po-Ebene, den Capri-Fischern, bauchigen Lambrusco- und Chiantiflaschen mit den Wachsmanschetten der verrauchten Gemütlichkeit, bis zur vernichtenden Nachahmung von Spagetti Napoli als weichgekochtem Nudelmatsch mit roter Soße.