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2024-03-06 07:55:23, Jamal

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© Jamal Tuschick

Die Schwarte im Gras

Täglich schließt Keno die Kreuzworträtsellücken seiner Oma am gravitätischen Schreibtisch im Großraumwohnzimmer. Stille könnte einen Moment der inneren Einkehr begünstigen. Doch brüllt der Maximalfernseher von morgens bis abends, während so gut wie keine Sendung Betty die seelisch so notwendige Zustimmung gestattet. Vertrauenswürdig erscheinen ihr nur autoritär auftretende Männer, die sie an die leitenden Herren ihrer Jugend erinnern. Dazu gehörte der verstorbene Bernhard Grzimek. Betty trauert Leuten nach, denen sie nie persönlich begegnet ist. Sie kann sich das englische Wort für Außerirdische nicht merken. Der Enkel füllt die Kästchen mit den Buchstaben A-l-i-e-n. Keno zweifelt nicht an der Existenz von Aliens und Reptiloiden. In Vietnam wurde vor wenigen Jahren erst ein unterirdischer Urwald in einer zehn Kilometer großen und vierzig Stockwerke hohen Höhle entdeckt. Das Refugium beherbergt ein komplettes Ökosystem mit Sandstränden an einem Fluss, eigenen Wolken, einer teilautonomen Flora und Fauna und bis zu achtzig Meter hohen Stalagmiten. Zwei Karsttrichter sorgen für Sonnenlicht. Fossiler Fledermaus-Guano liefert Naturdünger. Forscher entdeckten da Amphibienarten und die Vu-Quang-Antilope. Für Keno passt das zu Berichten von amerikanischen Soldaten, die im vietnamesischen Dschungel aufrecht gehende Echsen gesehen haben wollen. Die Sơn-Đoòng-Höhle liegt im Nationalpark Phong Nha-Kẻ Bàng nahe der Grenze zu Laos.

Durch die gläserne Terrassentür tritt Keno ins Freie. Er prallt gegen eine Hitzewand. Veronika winkt ihn zu sich. Sie streckt sich neben der Jauchegrube unter einem vom Neffen aufgestellten Sonnenschirm auf einer Matte, die sich ihr und ihrem Mann Taifun beim letzten Elsass-Trip im Soufflenheimer Leclerc-Supermarché aufgedrängt hat. Plötzlich lag das Ding im Einkaufswagen. Keno erhascht einen Blick auf das brüchige Titelbild einer Schwarte im Gras.

Ich gehe kurz in den Überflug - Der allwissende Erzähler mischt sich ein

Eine Hausfrau, „so brav und folgsam wie der Schall des Gongs“, erhebt ihre Stimme an einer langen Tafel. Der Gesellschaft erklärt sie monoman: „Auf meiner Faust kann man sicher stehen, über meine Brust … kann ein Pferd spazieren.“ So steht es geschrieben in dem ewigen Epos „Kin Ping Meh oder Die abenteuerliche Geschichte von Hsi Men und seinen sechs Frauen“. Die promovierte Hausfrau Veronika passt ins chinesische Mittelalter. Sie ist ebenso stark wie unfrei. Im „Kin Ping Meh“ sucht sie nach Stellen. Früher, als Pornografie noch nicht eine ständige Begleiterin sein konnte, suchten manche Leute in Romanen nach jenen Stellen, die als Gerüchte kursierten. Sie übersprangen das langweilige Dazwischen, bis vom Sex wieder auf eine prickelnd konkrete Weise die Rede war. So ließ/lässt sich auch „Kin Ping Meh“ lesen. Der Apotheker Hsi Men wirft ein Auge auf die Frau des Pasteten-Händlers Wu Ta. Als Tochter eines Schneiders entstammt Goldlotus dem „dienenden Stand“. Deshalb sind ihr „niedrige Beweggründe“ auf allen Wegen erlaubt. Schamlos intrigant lockt sie den Bruder ihres Mannes, der als Hauptmann eine übergeordnete Stellung im sozialen Gefüge einnimmt, in ihr Haus. Ein Verführungsversuch schlägt fehl. Mit „verhaltenem Ingrimm“ weist Wu Sung die Schwägerin zurück. Der Offizier ist der bewaffnete Arm des Präfekten. Wie Friedrich Schillers Karl Moor „fühlt er eine Armee in seiner Faust“. Ihm anvertraut wird ein Schatz zur Transferierung in die Kapitale. Der Provinzmandarin verspricht sich von seiner Spende das Wohlwollen des Hofes.