Fiktive Anekdoten
Am 25. Februar 1964 verliert Sonny Liston in der Miami Beach Convention Hall den Weltmeistertitel im Schwergewicht an einen Olympiasieger von 1960. Muhammad Ali (1942 - 2016) heißt noch Cassius Clay. Gern wäre er der jüngste Schwergewichtsweltmeister aller Zeiten geworden. Den Rekord hält Floyd Patterson, der 1956 im Alter von einundzwanzig Jahren den halbgreisen Archie Moore schlug. Erst dreißig Jahre später wird ein zwanzigjähriger Herausforderer den Rekord brechen. Gegen Mike Tyson unterliegt Trevor Berbick. Fünf Jahre zuvor hatte der Verlierer Ali endgültig in den Ruhestand geschickt. Seinen Triumph widmet der neue Champ dem 1985 verstorbenen Kampfkunstgenie Cus D’Amato.
Cus D’Amato erschuf Mike Tyson. Er prägte Floyd Patterson. Auf seinem Grabstein steht:
Ein Junge kommt zu mir mit einem Funken/ Aus dem Funken mache ich eine Flamme/ aus der Flamme ein Feuer/ und aus dem Feuer einen Flächenbrand.
Viele Karrierehöhepunkte absolvierte Ali nach dem endgültigen Verlust seiner besten Form - in der fatalen Kontinuität halbherziger Restaurationsversuche. Den Zenit überschritt der Publikumsmagnet so unauffällig, dass alle Welt bis heute zu wissen glaubt, wer Ali auf dem Gipfel seines Könnens war. Bloß, dass ihn da keiner in einem Meisterschaftsring zu sehen bekam. In seinen besten Sportlerjahren war Ali gesperrt.
In der Hochzeit seiner Leichtfüßigkeit agierte kein Schwergewichtler behänder als Ali. Nach seiner Wehrdienstverweigerung 1967 wurden ihm sämtliche Titel aberkannt. Er verlor seine Boxlizenz und musste seinen Reisepass abgeben. Hinzu kam eine Geld- und eine nicht vollstreckte Gefängnisstrafe. 1970 endete die Zwangspause.
Jonathan Eig, „Ali. Ein Leben“, aus dem amerikanischen Englisch von Werner Roller, DVA, 695 Seiten, 32,-
Der Jahrhundertathlet wurde zum Opfer einer Erzählung, die das Offensichtliche verspottet. Die Urheber der einschlägigen, längst klassisch anmutenden Narration hielten die Wahrheit für formbar. Fast alle Assoziationen mit den titelstarken Großereignissen Rumble in the Jungle und Thrilla in Manila verfehlen einen virulenten Kern. In jedem Fall wurden totalitäre Regime aufgewertet. Als Präsidenten sich gerierende Gangster stellten das Notwendige mit der Erwartung zur Verfügung, das Alis Auftritt ihre Despotien veredeln würde.
Wie unfrei der größte Sportstar einer Epoche agierte, belegt nicht zuletzt eine mit „fiktiven Anekdoten“ angereicherte, 1975 erstmals publizierte Autobiografie. Ali teilte sich das Copyright mit seinem Manager. Herbert Muhammad war ein Sohn von Elijah Muhammad, dem Gründer und geistigen Oberhaupt der Nation of Islam. Ali betrachtete Elijah Muhammad als seinen Spiritus rector. Er unterwarf sich Elijah Muhammads oft harschem Urteil vollständig.
„Das Werk war … im hohen Maß eine Schöpfung von Herbert Muhammad.“
Es diente der Verbreitung von Legenden im Spektrum einer Schwarz-muslimisch ikonografischen Identität. Ali gab öffentlich zu, die Autobiografie nie gelesen zu haben. Er litt unter Schreib- und Leseschwäche. Zudem beherrschte der Großverdiener noch nicht einmal das kleine Einmaleins.
Zu seinem Nachteil bewies Ali außerordentliche Nehmerfähigkeiten. Sein traurigster Rekord ergab sich in der Summe der Schläge, die er einstecken musste. Ali ließ zu, dass sich die härtesten Puncher der Welt an seinem Rumpf wie an einem Sandsack verausgabten.