„Ich kann nicht beschreiben, wie wichtig mir dieser Sieg war, mir, die ich noch bei keinem Spiel gesiegt und die ich schon so viel Scheiße gefressen hatte.“
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Narrativer Eskapismus
Das erzählende Ich zersplittert wie in einem Spiegelkabinett. Es begegnet sich selbst in Zuständen äußerster Entfremdung. Manchmal erkennt es sich selbst nicht. Auch alle anderen Akteure versagen an den Fronten der Eindeutigkeit. Es existiert keine übergeordnete Instanz. Keine Aufsicht führende Person erklärt den Leser:innen den Fahrplan und die Topografie. Nichts hegt den narrativen Eskapismus der Erzählerin in Zeruya Shalevs vor dreißig Jahren erstmals erschienenen, und nun auch auf Deutsch vorliegenden Romandebüt ein. Sie steckt bis über beide Ohren in einem sich grotesk sämtlichen Einordnungen entziehenden, in jedem Fall tumultartigen Desaster.
Zeruya Shalev, „Nicht ich“, Roman, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Berlin Verlag, 208 Seiten, 24,-
Wie in einer Tombola werden sogar die Namen verwirbelt. Die äußerst unzuverlässige Erzählerin könnte Nurit oder Varda heißen. Manche Tage sind für sie „gelb“. Einmal schiebt sie ein Huhn in den Ofen und zieht einen Honigkuchen wieder raus. Manchmal schätzt sie die Liebe so gering, dass ihr ein Kilo Erdbeeren bedeutender erscheint. Bei einer anderen Gelegenheit erfleht sie eine Symbiose mit ihren Angehörigen. Ihre Gebärmutter hat sie an ihren Ex-Mann abgetreten. Der ist schwanger, während ihr die Haare ausfallen. Im Schlaf überfällt sie rasende Wut.
Das vielstimmig-fluide Ich changiert zwischen Verlust und Unmöglichkeit im Plural der Varianten. Nichts übersteht den Elchtest des nächsten Augenblicks unbeschadet. Alle Mitteilungen vibrieren im Rüttelsieb dissoziativer Wahrnehmung.
Einmal sagt jemand: „Man darf die Hoffnung nie verlieren.“
Das momentane Ich entgegnet: „Wie kann man etwas verlieren, was man nie besessen hat?“
Aberrationsakrobatik
„Einer, der im Zorn geht, wartet darauf, dass jemand ihn zurückruft.“
Im „Licht der Versöhnung“ möchte er eine ältere Absicht ungeschehen machen. Doch wird er nicht begnadigt.
Viele Szenen gleichen Albtraum-Notaten. Sie drehen sich um dysfunktionale Beziehungen zum Ex-Gatten, einem Ex-Liebhaber, ihren Eltern und einer Tochter, die wohl entführt wurde. In jedem Fall wurde sie von ihrer Mutter verlassen. Seither hat sich ihr Stoffwechsel um die Verdauungsprozesse vermindert. Sie ist auch nicht mehr gewachsen.
Auch die Devianz schafft sich Routinen. Die Aberrationsakrobatik und Abweichungsmechanik unterliegen einem Kalkül. Trotz vieler Spots des Grauens in einem kaleidoskopartigen Bilderbogen verfehlt das moribunde Ich die Spurrillen der Geläufigkeit stets in der gleichen Manier.
Aus der Ankündigung
Wer weiß schon, was der Erzählerin in diesem halben Jahr wirklich geschah. Die junge Frau, die noch nicht einmal ihren Namen verrät, tischt uns eine Geschichte nach der anderen auf. Nur eins scheint klar: Sie hat Mann und Tochter für ihren Geliebten verlassen und nun zerbricht sie daran. Der Spiegel, den sie sich erzählend vorhält, scheint in Stücke gesprungen und in jeder Scherbe schillert eine andere Version. Trauer, Verlassenheit, Angst und Wut lassen sie die Welt als Apokalypse des Schmerzes erleben … Als dieser provokante wie hochliterarische Klagegesang erschien, rief er in Israel wütende Empörung hervor. Erst jetzt, fast 30 Jahre später, scheint endlich die Zeit reif für dieses frühe literarische Meisterwerk einer Weltautorin.
Erstmals in deutscher Übersetzung: der erste Roman von Zeruya Shalev
„Erst als ich ›Schicksal‹, meinen 7. Roman, geschrieben hatte, wagte ich, mein Debüt wieder zu lesen. Endlich spürte ich die Bereitschaft, ihn als Teil von mir anzunehmen, auch wenn er nicht ich ist ... Ich konnte meine wilde und gebeutelte Heldin ins Herz schließen und Mitgefühl für sie empfinden. Als ich begann, den Roman für Sie, mein treues deutsches Publikum, vorzubereiten, spürte ich, dass es nötig war, ihm ebenjene mütterliche Zuwendung zukommen zu lassen, die ich ihm vor dreißig Jahren nicht hatte geben können. Ich tauchte noch einmal in seine Welt ein und versuchte, auf dem Zeitstrahl zurückzukehren und der jungen Autorin, die ich damals war, die Hand zu reichen.“ Zeruya Shalev
Zur Autorin
Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben„, “Mann und Frau„, “Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane „Schmerz“ (2015) und „Schicksal“ (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.